20.05.2015
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Einleitung: 

Das wesentliche Ziel Russlands im Ukraine-Konflikt sei es, eine NATO- und EU-Mitgliedschaft des Landes zu verhindern, so Wallerstein. Wenn diese Bedingung erfüllt sei, wäre Russland zufriedengestellt. In den USA gebe es jedoch starke Kräfte, die eine solche Lösung zu sabotieren versuchten. Allerdings gebe es bisher niemanden, der bereit sei, die Rechnung für den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Ukraine zu zahlen, auch die USA nicht. Deutschland und Frankreich wiederum würden zwar mit Lippenbekenntnissen die US-Position unterstützen, tatsächlich aber keine Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO wollen, um die engen Beziehungen zu Russland nicht zu gefähren. Da der Konflikt angesichts der Atombewaffnung Russlands militärisch nicht zu lösen sei, käme in dieser Pattsitation nur eine "Finnlandisierung" - also die Neuträlität - der Ukraine als Lösung in Frage.

Gäste: 

Immanuel Wallerstein, Senior Research Scholar an der Yale University, USA. Mitbegründer der Weltsystem-Theorie, von 1994-1998 Präsident der International Sociological Association und Autor zahlreicher Bücher

Transkript: 

Fabian Scheidler: Die Ukraine ist zu einem akuten Schwerpunkt der hegemonialen Kämpfe zwischen den USA und Europa einerseits und Russland andererseits geworden. Worum geht es nach Ihrer Meinung bei diesem Konflikt in geopolitischer Hinsicht? Was sind die Interessen der USA und der EU sowie Russlands?

Immanuel Wallerstein: Lassen Sie mich mit Russland beginnen. Ich denke, das erste und wichtigste Interesse Russlands besteht darin, dass die Ukraine weder Mitglied der NATO noch der Europäischen Union wird. Wenn man Russland das zugestehen würde, wäre es glücklich. Worin besteht das Interesse der USA? Für die USA gibt es gegenwärtig eine Menge innenpolitischen Druck, die Ukrainer zu unterstützen. Die ukrainische Regierung hat das Interesse, Mitglied der europäischen Institutionen und der NATO zu werden. Das Interesse Deutschlands und Frankreichs ist es, die Ukraine aus der Europäischen Union herauszuhalten. Dafür gibt es sehr gute Gründe, besonders, weil sie ihre Beziehung zu Russland nicht gefährden wollen. So geben sie zwar vor, die US-Position zu unterstützen, aber sie verzögern alles, was wirklich dazu führen könnte, Druck auf Russland und seine Haltung auszuüben. So gibt es hier eine Pattsituation, und dabei wird es bleiben. Außerdem wäre die Absicht, der ukrainischen Regierung wirtschaftlich zu Hilfe zu kommen, extrem kostspielig, denn es geht dieser Wirtschaft sehr schlecht, und niemand möchte diese Rechnung bezahlen, noch nicht einmal die Vereinigten Staaten. Eigentlich gibt es nur eine Lösung, und kein geringerer als Henry Kissinger hat sie schon vor einiger Zeit vorgeschlagen. Sie besteht in der »Finnlandisierung« der Ukraine. Das heißt, dass man ihnen alles zugestehen soll, was sie im Bereich ihrer verbalen Ideologie verlangen, sie sollen so europäisch sein, wie immer sie wollen, aber sie dürfen weder in europäische noch in russische Institutionen eingebunden werden. Sie werden also de facto zu einer neutralen Macht, und darin liegt die Lösung. Es gibt Leute in den Vereinigten Staaten, die versuchen, diese Lösung zu sabotieren; es könnte durchaus sein, dass sie sich durchsetzen, aber das wäre verhängnisvoll.

Fabian Scheidler: Glauben Sie, dass die USA wegen der Ukraine im schlimmsten Fall einen Krieg gegen Russland führen würden?

Immanuel Wallerstein: Wir können gegen Russland keinen Krieg beginnen. Sehen Sie, wir befinden uns in genau derselben Situation wie vor zwanzig oder dreißig Jahren. Ich meine, keine Seite kann einen Krieg beginnen, denn der wäre viel zu zerstörerisch, er wäre eine Katastrophe. Nun gibt es zwar ein paar Leute, die das riskieren würden, aber sie haben weder in den USA noch in Russland das Sagen. Deshalb kann man Krieg kategorisch ausschließen. Natürlich zeigt das wieder, wie begrenzt die Macht der Vereinigten Staaten im Grunde ist. Sie können wegen dieser Frage keinen Krieg riskieren.

 

[Übersetzung aus dem Englischen von Michael Krämer]