25.04.2013
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Einleitung: 

Die Journalistin Liliah Weslaty, aktiv an der Bewegung zum Sturz Ben Alis beteiligt, berichtet, wie sie mit anderen Aktivisten die allgegenwärtige Zensur durchbrach. Angefangen hatte alles mit der Bewegung von Minenarbeitern im Phosphatbergbau, die gegen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen protestierten. Doch zwei Jahre nach der Revolution sei deren Situation noch unverändert. Auch Willkür von Polizei und Justiz seien noch an der Tagesordnung. Unter der gegenwärtigen Regierung erwarte sie auch keine Aufklärung der Ermordung des linken Oppositionsführer Chokri Belaid, die in Tunesien im Februar einen tiefen Schock ausgelöst hatte. Bereits im Herbst 2012 hätte die der regierenden Ennahda-Partei nahestehende „Liga für den Schutz der Revolution“ über den Tod Belaids öffentlich spekuliert. In Ägypten wie Tunesien  werde, so Samir Amin, neoliberale Wirtschaftspolitik nahtlos fortgeführt.

Gäste: 
Geneviève Azam, Internationaler Rat des WSF / Attac Frankreich
Liliah Weslaty, freie Journalistin, Tunis
Sinda Garziz, Bewegung "Article 13", Tunesien
Samir Amin, Prof. für Ökonomie, Universität Dakar / Third World Forum
Firoze Manji, Chefredakteur von Pambazuka Press, Nairobi; ehem. Direktor von Amnesty International Afrika
Transkript: 

Mit Tunis fand das Weltsozialforum zum ersten Mal in einem arabischen Land statt – ein Versuch, die globalen sozialen Bewegungen mit den Revolutionen im nordafrikanischen und arabischen Raum zu verknüpfen.

Geneviève Azam: Der Internationale Rat hat Tunesien zunächst einmal deswegen ausgewählt, weil seit einigen Jahren hier in Nordafrika und dem Nahen Osten mehrere sozio-ökologische Foren stattgefunden haben, die von besonderer Bedeutung waren. Und selbstverständlich waren es die sozialen Bewegungen weltweit, die allesamt nach Tunesien kommen wollten. Nicht zuletzt auch damit sich der „tunesische Frühling“ politisch und auf internationaler Ebene öffnen kann. Die Organisation des Sozialforums hat sowohl für Tunesien, als für Nordafrika und den Nahen Osten ein Fenster geöffnet. Auch wenn dies mit zahlreichen zu erwartenden Schwierigkeiten verbunden war, so war es in jedem Fall ein Fenster der Öffnung. Es war außerdem auch ein Fenster der Zusammenführung der sozialen Bewegungen auf globaler Ebene. Wir haben uns hier zusammengefunden, um uns gegenseitig zu unterstützen und neue Energie zu tanken.

Im tunesischen Fernsehen und Radio wurde über das globale Treffen berichtet. Die Spannungen der Umbrüche waren auf dem Campus zu spüren, säkulare und religiöse Gruppen skandierten Sprüche. Die Mauern der Universitätsgebäude waren mit dem Foto von Chokri Belaid, dem kürzlich ermordeten Führer der linken Partei in Tunesien, plakatiert. Dazu die tunesische Journalistin Liliah Weslaty:

Liliah Weslaty: Der Mord an Chokri Belaid, der zur politischen Linken gehörte, war ein Schock für das gesamte Tunesien. Bislang wissen wir nicht, wer ihn umgebracht hat, und man kann auch nicht die regierende Ennahda oder eine andere Partei beschuldigen, das ist nicht möglich. Aber es hat ein Gefühl von Unsicherheit bei den Menschen geschaffen. Es gibt hier einen sogenannten "rechten Arm", d.h. eine islamistische Gruppierung, die der Ennahda-Partei nahe steht. Si enennnt sich Liga für den Schutz der Revolution. Tatsächlich führt sie zwar die Revolution im Mund, stimmen tut davon aber gar nichts. Die Leute von dieser Liga haben ständig Todesdrohungen ausgesprochen, sie haben auch zugeschlagen, es gibt Augenzeugenberichte hierüber, doch jedesmal – hier haben wir wieder das Justizproblem – wurden sie freigelassen. Wir haben eine Untersuchung gemacht, um zu zeigen, dass die Mitglieder dieser Liga schon seit 2012 darüber redeten, Chokri Belaid zu ermorden, seit Herbst 2012 – das ist wirklich gravierend –sie haben schon damals über diesen Mord öffentlich nachgedacht. Und sie haben Waffen verkauft. Im Prinzip gibt es einen Staatsanwalt, der die Untersuchungen einleiten sollte – es gibt immerhin Beweise, Videos usw. –, um diese Leute verhaften zu lassen, aber bisher ist nichts passiert. Der Präsident dieser Liga hat die Organisation verlassen, weil er diese Mafia – es ist wirklich eine Mafia geworden – überhaupt nicht mehr kontrollieren konnte. Diese Leute sagen "ja, wir wollen die Revolution", aber in Wirklichkeit verlangen sie Geld, sie verhandeln mit den Korrupten, oder sie sagen: "du gibst uns Geld, sonst bringen wir dich um". Mit einer revolutionären Bewegung hat das also nichts mehr zu tun. Es gab auch Angriffe auf Orte, wo sich Menschen zu einer Parteiversammlung trafen: Die Leute von dieser Liga kamen und zerstörten das Mobiliar und schlugen auf die Leute ein, jedesmal wurde ein Gefühl von Unsicherheit erzeugt. Bevor Chokri Belaid starb, sagte er, dass man einen Kongress gegen die Gewalt veranstalten muss, dass diese Liga verurteilt werden muss, weil diese Leute eine große Gefahr sind. Am 6. Februar ist er dann ermordet worden. Und bisher weiß man nicht, wer es war. Ich habe allerdings kein Vertrauen in unseren Innenminister; kein Vertrauen in unsere Justiz, und solange wir das nicht haben, solange wir keine vernünftige Justiz haben, bin ich sicher, dass wir nicht erfahren werden, wer Chokri Belaid umgebracht hat.

In der Nähe von Tunis begann vor zweieinhalb Jahren der Arabische Frühling. Aus Verzweiflung verbrannte sich der Früchteverkäufer Mohmed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid unweit von Tunis und löste damit die Aufstände aus, die sich von Tunesien über den arabischen Raum verbreiteten. Ben Ali in Tunesien wurde nach seiner 23-jährigen Herrschaft gestürzt, seine Foltergefängnisse geschlossen. Die Journalistin Liliah Weslaty war unmittelbar an diesen Ereignissen aktiv beteiligt.

Liliah Weslaty: Bei der tunesischen Revolution ging es mir wie vielen jungen Leuten, die nur eines wollten: Die Mauer des Schweigens brechen. Wir wollten, dass die Zensur verschwindet. Informationen müssen ihren Weg zu den Menschen finden, die Menschen müssen wirklich wissen, was in den Gefängnissen passiert, die Menschenrechtsverletzungen. In allen offiziellen Medien bekamen wir nur Propaganda vorgesetzt. Das war ungefähr so wie in Nordkorea, wir hatten kein Internet, sogar YouTube war zensiert, die Moscheen waren zensiert, Hunderttausende von Internetseiten waren zensiert, auch Bücher und Zeitungen, so dass die sozialen Netzwerke für mich und viele andere das Medium der Wahl wurden, um den Menschen jenseits dieser Mauer aus Propaganda zu sagen: Seht her, das-und-das passiert hier. Eine wichtige Sache am Anfang war die Bewegung von Redayef. Redayef ist eine kleine Ortschaft im Süden Tunesiens, wo es eine sehr, sehr starke Protestbewegung gegeben hat. Das waren dort Bergarbeiter. In dieser Region wird Phosphat abgebaut. Tunesien ist der fünftgrößte Phosphatproduzent der Erde. In diesem kleinen Ort und seiner Umgebung herrschte extreme Armut. Von dort floss viel Geld an den Staat, aber die Menschen vor Ort hatten davon überhaupt nichts. Das soziale Unrecht hatte dort einen seiner Ursprünge, diese Bewegung war von allen die sichtbarste. Danach haben junge Leute wie ich angefangen uns über das Intzernet zu verabreden und Proxies zu benutzen, um die Zensur zu umgehen. Wir haben zunächst aufgehört, über das Unrecht und die Ungerexchtigkeiten des Regimes zu sprechen, das hatte keinen Sinn, weil jede Botschaft automatisch durch Zensur und Propaganda blockiert wurde. Daher mussten wir eine andere Vorgehensweise wählen: zuerst die Mauer der Zensur durchbrechen und uns danach um das Unrecht kümmern. Anfangs fand diese Strategie wenig Anklang: "Nein, wir müssen erst über die Folterungen sprechen, das ist doch wichtiger!" – Nein! Erstmal mussten Informationskanäle geschaffen werden, damit die Menschen die Wahrheit erfahren. So hat unsere Arbeit begonnen; es gab mehrere Gruppen, ich selbst arbeitete mit zwei Freunden, die nicht in Tunesien waren, ich machte Videoaufnahmen, übersetzte Texte, Augenzeugenberichte, zusammen mit zwei Aktivisten. So hat sich alles entwickelt und ist dann tatsächlich zum Hauptangriffsinstrument gegen die Zensur geworden. Jetzt hat sich der Blickwinkel geändert. Die Menschen wissen nicht, was sie von allem halten sollen. Was brauchen wir? Es gibt eine Reihe von Problemen: die Politiker, die nichts taugen; die Opposition, die zu schwach ist. Wir, mit ein paar von unseren Freunden, befassen uns vor allem mit der Justiz. Die zweite Herausforderung nach der Abschaffung der Zensur und der Erlangung der Meinungsfreiheit ist, diese Meinungsfreiheit auch dauerhaft schützen zu können, und faire Gerichtsprozesse zu garantieren, um die wirklich Schuldigen des alten Regimes vor Gericht stellen zu können, um zu einem gerechten Übergang und zu einem funktionierenden Justizwesen zu gelangen. Die dritte Herausforderung wäre dann natürlich das Erziehungs- und Bildungswesen.

Doch was hat sich seit den Revolutionen in Tunesien und Ägypten politisch, ökonomisch und sozial verändert? Welche Interessen verfolgen die USA und Europa in der Region? Und in welcher Beziehung steht der politische Islam zur neoliberalen Wirtschaftspolitik, die auch nach den Revolutionen fortgeführt wird? Wir sprachen darüber mit Genevieve Azam, Liliah Weslaty, Sinda Garziz, Samir Amin und Firoze Manji.