07.03.2017
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Einleitung: 

Ein Ausweg aus der Krise in den USA und der EU sei nur möglich, wenn die Institutionen, die Gesetze und die politischen Parteien, die sich in den letzten 30 Jahren dem Neoliberalismus verschrieben haben, von Grund auf geändert werden. Die Linke müsse in dieser Lage einen Plan entwickeln. Erste Versuche dafür kommen aus Großbritannien und den USA. Jeremy Corbyn etwa, der Vorsitzende der britischen Labour Partei, und Bernie Sanders, der in den US-Vorwahlen nur knapp Hilary Clinton unterlag, vertreten beide in ihren Programmen eine Unterstützung von Arbeiterkooperativen. Corbyns Konzept sieht vor, dass jedes Unternehmen, das geschlossen oder verkauft werden soll, der Belegschaft anbieten muss, den Betrieb zu kaufen – mit staatlicher Unterstützung. Durch Corbyn seien bereits 500.000 neue Mitglieder in die Labour Partei eingetreten. Und mit Sanders hatte zum ersten Mal ein Kandidat, der sich als „Sozialist“ bezeichnet, reelle Chancen auf die US-Präsidentschaft. Bei den unter 35-Jährigen lag er sogar weit vorn. Die demokratische Partei stehe vor der Entscheidung, entweder in eine neue Richtung zu gehen oder einen Abstieg wie die europäische Sozialdemokratie zu erleben.

Gäste: 

Richard D. Wolff, Ökonom, Prof. em. an der University of Massachusetts, Amherst. Sein jüngstes Buch heißt "Capitalism's Crisis Deepens: Essays on the Global Economic Meltdown" ("Die Krise des Kapitalismus verschärft sich. Essays über den globalen wirtschaftlichen Zusammenbruch").

Transkript: 

Fabian Scheidler: Seit der Finanzkrise des Jahres 2008 unterliegen die EU und besonders der Euro massiven Risiken. Deutschland und die Troika zwingen den südeuropäischen Ländern rigide Sparmaßnahmen auf, wo eine ganze Generation ihre Zukunft bereits verloren hat, mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 50 und mehr Prozent. Gleichzeitig implodieren alte mächtige Parteien, besonders die Sozialdemokraten und Teile der Konservativen in einigen europäischen Ländern, während rechtsgerichtete Populisten das entstandene Vakuum füllen und in einigen anderen Fällen neue progressive Bewegungen oder Parteien entstanden sind. Worin bestehen nach Ihrer Meinung die Optionen für Europa, und kann es im Rahmen der neoliberalen EU-Verträge und der Eurozone fortschrittliche Veränderungen geben?

Richard Wolff: Um den letzten Teil zuerst zu beantworten: Ich sehe nicht, wie es in Europa weitergehen kann, wenn nicht zuerst die Folgen der letzten 30 Jahre beseitigt werden – das ist hier in den Vereinigten Staaten ganz genauso. Wir haben in den USA unsere Institutionen, unsere Gesetze, unsere politischen Parteien darauf ausgerichtet, einem globalisierten Kapitalismus zu dienen, der eine wachsende Ungleichheit erzeugt hat, wie wir sie seit hundert Jahren nicht mehr gekannt haben. Da alle Institutionen sich darauf ausgerichtet haben, bedeutet das, dass man auch alle diese Institutionen neu denken und organisieren muss, wenn man den Kurs ändern will. Ich glaube, dass ein solcher Wechsel in der Luft liegt, ob er nun eine linke Form oder eine rechte Form annehmen wird. Ich denke nicht, dass die Rechte wirklich Lösungen anbietet. Sie will die Probleme des Kapitalismus durch kulturelle, soziale und staatliche Manipulationen beheben, aber das Problem ist kein kulturelles, kein soziales, kein staatliches. Das Problem ist die Ökonomie, und da haben sie keine Antwort. Da setzten sie einfach auf ein „Weiter so“. Das kann man hier in den Vereinigten Staaten sehr klar sehen. Wenn es die Linke schafft, mit einem stimmigen Plan aufzutreten, dann hat sie eine gute, ja vielleicht eine bessere Chance, einen Ausweg aus der Krise anzubieten als die Rechte. Das Problem hier in den Vereinigten Staaten, und ich vermute, es ist in Europe nicht viel anders, liegt darin, dass die Linke unfähig oder unwillig war, mit eigenen Traditionen zu brechen und einen neuen Weg vorzubereiten. Die größte Kritik, die ich an der Sozialdemokratie und auch an der Partei der Linken habe, ist, dass sie mit einem Plan aufwarten müssten: „Hier ist der Plan, wie wir als Linke die Probleme lösen werden!“ Man darf nicht bloß auf aktuelle Fehlentwicklungen reagieren, man muss den Menschen erklären, dass der Neoliberalismus nicht das Problem ist, sondern lediglich die jüngste Spielart des Kapitalismus. Das Problem ist der Kapitalismus selbst, ob er nun in Gestalt des Neoliberalismus oder der alten sozialdemokratischen Form oder dem Keynesianismus auftritt. Die gehören alle der Vergangenheit an, sie sind tot. Damit werden wir es nicht schaffen. Ich glaube, der Weg, der uns weiterbringt, ist gut durch das beschrieben, was ich vorhin über die Kooperativen, über eine neue Form der Gestaltung der Arbeitswelt, gesagt habe. Darüber reden die Rechten nicht, dazu fordern sie nichts, denn kein Rechter wird es wagen, seine Geldgeber zu verschrecken. In diese Richtung müsste es also gehen. Und ich kann Ihnen zwei Beispiele dafür geben, welche Leute das bereits machen. Die Beispiele sind überraschend, weil sie gerade nicht von der europäischen Sozialdemokratie ausgehen, von der man das eigentlich hätte erwarten können. Sie stammen aus den Vereinigten Staaten und aus England, was lange nicht möglich schien. Das erste Beispiel ist Jeremy Corbyn in Großbritannien, der Vorsitzende der Labour Partei. Wenn man sich das Programm von ihm anschaut, findet man dort in einem Punkt etwas sehr Radikales. Er sagt dort, dass er – genauso wie John McDonnell, der Kandidat der Labour Partei für das Finanzministerium – nach einem Wahlsieg ein Gesetz verabschieden will, dass folgendes vorsieht: Jedes Unternehmen in Großbritannien, das entweder schließen oder an die Börse gehen will, muss vorher den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Übernahme des Unternehmens anbieten, die es als Kooperative weiterführen können. Als die Frage gestellt wurde, woher denn die Belegschaft das Geld dafür hernehmen solle, lächelte Herr Corbyn und erklärte, dass die Regierung es ihnen leihen könne. Das ist außerordentlich, das bereitet wirklichen einen Weg in die Zukunft, wenn er sagt, wir als Partei verpflichten uns, einen großen kooperativen Sektor in unserer Wirtschaft einzuführen, der massiv unterstützt wird und vielen Menschen offensteht. Das zweite Beispiel ist Bernie Sanders. Er ist zwar nicht so weit gegangen wie Corbyn. Aber auch er hat in seinem Wirtschaftsprogramm von Kooperativen gesprochen. Er hat sehr vorsichtig damit begonnen, nicht mit vielen Details, aber er hat es in seinem Programm und wir unterstützen diesen Punkt nach Kräften. Ich bin überzeugt, viele Demokraten werden merken, dass dies ein Weg ist, der sie besonders macht und sie als eine Partei auszeichnet, die wirklich Antworten hat, auf die die Menschen warten. Außerdem bin ich sicher, dass das, was wir hier in den USA miterleben konnten, auch anderswo passieren wird. Zum ersten Mal seit fünfzig Jahren ist in der US-amerikanischen Geschichte ein Mann angetreten, der sich als Sozialist bezeichnet, der gegen das Big Business wettert und davon redet, Kooperativen aufzubauen – und er bekommt bei den Vorwahlen 13 Millionen Stimmen aus den verschiedensten Regionen des Landes, von denen niemand erwartet hätte, dass sie sich so entscheiden würden! Denn in diesem Punkt sind wir in den Vereinigten Staaten wohl anders als in Europa. Für die Masse der Leute hier bedeuten Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus und Terrorismus alle dasselbe. Also, zumindest haben wir das gedacht, aber wir lagen falsch, denn ein Sozialist stand auf und sagte: „Nein, ich rede über etwas ganz anderes“ – und es zeigt sich, dass er damit bei den Menschen unter 35 eine Mehrheit erringen konnte. Wenn bei den Präsidentschaftswahlen nur Leute bis 35 Jahre wahlberechtigt gewesen wären, dann wäre Sanders jetzt unser Präsident. Wir müssen über diese Tatsache intensiv nachdenken und unsere Schlüsse daraus ziehen.

Fabian Scheidler: Noch eine letzte Frage zu Sanders. Er hat es geschafft, eine Menge Leute zu begeistern und es gab viel Unterstützung. Wie beurteilen Sie die Zukunft dieser Bewegung jetzt, nach den Wahlen, nach der Wahl von Donald Trump? Obwohl er ein Unabhängiger ist, gehört er doch zur Partei der Demokraten. Er hat eine eigene Organisation gegründet. Was glauben Sie: Wie sollen sich die Menschen, die sich vor der Wahl engagiert haben, jetzt beteiligen, damit es zu einem wirklichen Wechsel kommt?

Richard Wolff: Ja, das ist eine Frage, die in den Vereinigten Staaten genau jetzt ausgefochten wird. Die größte Kritik der Linken an Bernie Sanders ist genau, dass er in der Partei der Demokraten bleibt. Das stärkste Gegenargument, das von ihm dazu kommt, lautet, dass die US-amerikanische Politik eben so strukturiert ist, dass er die Aufmerksamkeit und die breite Bühne für seine Kritik nur bekommt, solange er bei den Demokraten bleibt. Meine Antwort dazu lautet: Wir brauchen ihn in der Partei und wir brauchen ihn außerhalb der Partei. Aber da wir ihn nicht zweimal haben können, sollte er bei den Demokraten arbeiten und dort eine linke Position vertreten. Vielleicht, um ein Beispiel aus Deutschland zu gebrauchen, wird die Rolle von Bernie Sanders so ähnlich sein wie die von Oskar Lafontaine. Vielleicht besteht seine Aufgabe darin, so lange in der Partei der Demokraten zu bleiben, bis wir außerhalb der Partei etwas aufgebaut haben, das groß und stark und lebendig genug ist, dass er den Demokraten Lebewohl sagen kann und wir aus dem alten linken Flügel der Demokraten und anderen linken Kräften etwas zusammenbringen und so unsere Version der deutschen Partei „Die Linke“ gründen. Es könnte zumindest so laufen. Ich würde deshalb nicht sagen, „Verlasst alle die Demokraten“, denn die Gründe, dort weiter zu arbeiten, bleiben bestehen. Aber aus dem gleichen Grund unterstütze ich auch, dass Leute außerhalb der Demokraten arbeiten und die Partei kritisieren. Für unglaublich viele, besonders junge Leute, stehen sowohl die Republikaner als auch die Demokraten für die alten, schändlichen, verachteten Überbleibsel einer Gesellschaft, die sie nicht mögen, die sie nicht unterstützen und die sie nicht wollen. Wenn es nichts außerhalb der Demokraten gäbe, würden sich diese Leute wohl von der Politik abwenden. Allein Bernie Sanders hat sie zu den Demokraten gebracht, genau wie Jeremy Corbyn eine halbe Million Briten in die Labourpartei gezogen hat. Das muss man ernst nehmen. Falls es der Labourpartei gelingt, Corbyn und seine Unterstützerinnen und Unterstützer rauszuwerfen, werden sie eine neue Partei bilden. Wenn die Demokraten Bernie rauskicken, wird dasselbe passieren. Das ist der Grund, warum sie es nicht machen werden, denn sie haben schreckliche Angst davor, dass damit ihr Abstieg beginnt, so wie bei den deutschen Sozialdemokraten, und ich glaube, das würde auch passieren. Donald Trump hat das verstanden, indem er behauptet, die Interessen von Arbeitern zu vertreten, Arbeitsplätze im Land zu halten, Mexiko zu bekämpfen – was eine irrsinnige politische Entscheidung wäre, die den USA einen gescheiterten Staat direkt vor ihrer Türe schaffen würde, mit Abermillionen verzweifelter Menschen. Wenn Herr Trump das fortsetzt und es funktionieren würde, was ich nicht glaube, würde das eine Katastrophe in Mexiko verursachen, mit der sich die Politik noch 40 Jahre lang herumschlagen müsste. Das alles wissen die US-Amerikaner und ich glaube, die Demokratische Partei ist jetzt in großen Schwierigkeiten, sie weiß nicht, was sie tun oder wohin sie sich bewegen soll. Daran ist sie selbst schuld – sie hatte nach der Wahl Obamas die Chance, sie hätte etwas versuchen können, aber das hat sie nicht, weil sie Teil des Systems ist und nicht über den Tellerrand hinausschauen kann. Dafür wird sie jetzt teuer bezahlen. Das erklärt auch das Ergebnis der letzten Wahlen und ist der Grund dafür, warum die Politik in den nächsten Jahren, zumindest aus europäischer Sicht, extrem befremdend und gefährlich erscheinen wird.