13.06.2019
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Einleitung: 

Die “Flüchtlingskrise” sei in Wahrheit eine gewaltige Medien- und Politikkrise, so David Goeßmann. In seinem Buch “Die Erfindung der bedrohten Republik” deckt der Journalist und Kontext-TV-Mitbegründer auf, wie die großen Leitmedien die Deutschen in die Irre führten. Sie hätten mit manipulativen Mitteln Mythen verbreitet. Primäres Ziel der politischen Inszenierungen sei es, das verschärfte Abschottungssystem durchzusetzen. Denn Regierung und Wirtschaftseliten setzten trotz gegenteiliger Rhetorik seit Jahrzehnten auf „Flüchtlingsbekämpfung“. Im starken Kontrast zur Fachwelt und den meisten Bürgern in der EU, die mehr Verantwortungsübernahme ihrer Regierungen und ein Ende der Abwehrpolitik fordern. Wenn die Industriestaaten ihren Kurs gegenüber dem Globalen Süden nicht änderten, drohe angesichts der Klimaerwärmung eine Eskalation der Krisen.

Gäste: 

David Goeßmann: Journalist, Autor und Mitbegründer von Kontext TV. Vor kurzem erschien sein Buch "Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden".

Im Sommer 2015 habe es keine "Flüchtlingskrise", sondern eine "Abschottungskrise" gegeben, stellt David Goeßmann in seiner Analyse fest. Um den Schengenraum und damit den freien Warenverkehr in der EU zu stabilisieren - und nicht aus humanitären Gründen -, habe die deutsche Regierung keine andere Wahl gesehen, als die Flüchtlinge von Ungarn weiterreisen zu lassen. Zugleich sorgte sie auf EU-Ebene mit verschärften Maßnahmen wie dem EU-Türkei-Deal dafür, dass Schutzsuchenden kaum mehr in die EU kommen können. Die Medien unterstützten den verschärften Abschottungskurs als "alternativlos", während sie mit Angstnachrichten Stimmung gegen Flüchtlinge machten, so Goeßmann. Nach dem Motto: Deutschland muss sich vor Schutzsuchenden schützen. Dabei wurde wie beim "Sodom und Gomorrha" in der Kölner Silvesternacht oder beim kriminellen Flüchtling die Realität massiv verzerrt, mit doppelten Standards berichtet und Nicht-Einheimische an den Pranger gestellt.

In der "Flüchtlingskrise" wurde erneut von allen Seiten argumentiert, dass Flüchtlinge "vor Ort" besser versorgt werden könnten. Doch die Forderung sei nichts weiter als ein Feigenblatt für das inhumane Auslagern des "Problems" auf die ärmsten Länder der Welt, so Goeßmann. Neun von zehn Flüchtlingen müssten seit Jahrzehnten von armen Entwicklungsländern versorgt werden, die keinerlei Ressourcen dafür hätten. Schutzsuchende würden in ein inhumanes Lagersystem gepackt, in "Höllenexperimenten" abgelagert, wie eine ARTE-Reportage die Flüchtlingscamps bezeichnet. Denn die Industriestaaten seien nicht bereit, für das "Outsourcing" angemessen zu zahlen und damit Schutz zu ermöglichen. So gäben die reichen Länder pro Flüchtling im Globalen Süden weniger Geld aus als deutsche Hundehalter für Hundefutter. Währenddessen feierten die Medien Geberkonferenzen für syrische Flüchtlinge als historisch, die nicht einmal genügend Geld für die UN-Notversorgung einsammeln konnten.

Süddeutsche, Spiegel und Co. hätten die verschärfte Abschottung gegen Schutzsuchende wie den EU-Türkei-Deal als "ohne bessere Option" legitimiert. Man sei sich dabei einig gewesen mit der Politik, dass EU und Deutschland sich gegen Flüchtlinge schützen müssten, da sonst "alle" kommen würden. Doch weder würden "alle" kommen, noch sei Abschottung alternativlos, so Goeßmann. Im Gegenteil. Seit mehreren Jahrzehnten liegen Vorschläge von allen Seiten auf dem Tisch, den erodierten internationalen Flüchtlingsschutz wieder zu beleben und die Abwehrpolitik der Industriestaaten zu überwinden - im Sinne der Schutzsuchenden wie der Aufnahmeländer. Doch Presse und Rundfunk blendeten die von der Fachwelt wie den Bürgern geforderten fairen Lösungen komplett aus. Es hat keinerlei Diskussion darüber gegeben, selbst wenn die Kursänderung von Gremien des Europaparlaments und des Bundestags angemahnt wird. Ein Zeugnis einer blockierten Demokratie.

Schon jetzt sieht man, wie klimatische Veränderungen im Globalen Süden Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Die Industriestaaten trügen die Verantwortung für die Klimakrise, so Goeßmann. Die Errichtung eines internationalen Klimaflüchtlingsrechts jenseits der Genfer Konvention hält Goeßmann jedoch für wenig sinnvoll. Das Problem sei vielmehr die restriktive Auslegung des Rechts wie dessen Aushöhlung durch das Abschottungssystem. Die Lösung für die Klimakrise wie für die Hungerkrise mit fast einer Milliarde Unterernährten und vielen Millionen Toten jedes Jahr liege primär im Globalen Süden selbst. Die Lebensräume müssten geschützt und den Menschen eine Lebensperspektive ermöglicht werden. Wenn die Industriestaaten die Mittel dafür nicht bereitstellten, ihren Kurs beim Klimaschutz nicht massiv änderten, werde das Massensterben in den Entwicklungsländern weiter zunehmen und die Fluchtkrise eskalieren. „Das ist eine Katastrophe, die wir nicht akzeptieren dürfen. Daher ist es so wichtig, jetzt bei der Flüchtlingspolitik und globaler Solidarität zu insistieren. Denn dieses Problem wird in der Zukunft noch größer werden.“