29.06.2011
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Einleitung: 

Nachdem der Kapitalismus in den neunziger Jahren weltweit triumphierte, fragen sich heute angesichts von Finanzkrise, Klimakrise und Ernährungskrise immer mehr Menschen, ob dieses Wirtschaftssystem fähig ist, die großen Zukunftsfragen zu lösen oder ob der Kapitalismus nicht eher Teil des Problems ist. Immanuel Wallerstein, weltbekannter Weltsystemtheoretiker von der Yale University in den USA, sprach mit Kontext TV auf dem Weltsozialforum in Dakar über die Grenzen des kapitalistischen Systems.

Gäste: 

Immanuel Wallerstein, Senior Research Scholar an der Yale University, USA. Mitbegründer der Weltsystem-Theorie, von 1994-1998 Präsident der International Sociological Association und Autor zahlreicher Bücher

Transkript: 

Fabian Scheidler: Nachdem der Kapitalismus in den neunziger Jahren weltweit triumphierte, fragen sich heute angesichts von Finanzkrise, Klimakrise und Ernährungskrise immer mehr Menschen ob dieses Wirtschaftssystem fähig ist, die großen Zukunftsfragen zu lösen oder ob der Kapitalismus nicht eher Teil des Problems ist.

David Goeßmann: Immanuel Wallerstein, Professor für Soziologie an der Yale University Connecticut, hat sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem Wirtschaftssystem beschäftigt, das sich in den letzten 500 Jahren über die Erde verbreitet hat, und eine Weltsystemtheorie entwickelt, die international für Beachtung und für Kontroversen gesorgt hat.

Fabian Scheidler: Wir sprachen mit Wallerstein am 8. Februar am Rande des Weltsozialforums in Dakar, Senegal.

Fabian Scheidler: Wir befinden uns im Savanna Hotel in Dakar. Bei uns ist Immanuel Wallerstein.

David Goeßmann: Herr Wallerstein, vor einigen Jahren haben Sie vorhergesagt, dass der globale Kapitalismus die nächsten 30 Jahre nicht überleben wird. Erklären Sie, warum Sie zu dieser Vorhersage kommen.

Immanuel Wallerstein: Beginnen wir zuerst mit einigen Annahmen: Alle Systeme haben begrenze Lebenszeiten, kein System ist ewig. Das gilt ebenso für das Universum, wie auch für das kleinste subatomare System. Der Grund dafür, dass alle Systeme begrenzte Lebenszeiten haben, besteht darin, dass sie alle innere Widersprüche haben und sich mit der Zeit aus dem Gleichgewichtszustand entfernen. Wenn sie sich dann sehr weit vom Gleichgewicht weg bewegt haben, beginnen sie enorm zu oszillieren, zu schwingen. In dieser - wie die Systemtheorie es nennt - chaotischen Situation stehen die Systeme vor einer Verzweigung. An dieser Stelle kann das System nicht überleben und es ist ungewiss, wohin es sich entwickeln wird, da es zwei alternative Möglichkeiten gibt.  Dies ist eine allgemeine Voraussetzung. Wenn man nun auf das kapitalistische System, als ein besonderes historisches soziales System blickt, dann kann man sehen, dass es bestimmte Ereignisse gibt, die es zu einem Punkt gebracht haben, an dem es weit vom Gleichgewicht entfernt ist. Der Kapitalismus ist ein System, das die endlose Anhäufung von Kapital anstrebt. Dies ist sein einziges Ziel. Endlos versucht es dies zu tun. In seinem Bestreben Kapital anzuhäufen, müssen Firmen gegründet werden, die Profit erzielen und damit Kapital anhäufen. Betrachtet man die Kosten des Kapitalisten, dann gibt es drei wesentliche Kostenfaktoren. Der erste sind die Kosten des Personals; vom oberen bis zum unteren Personal. Der zweite wesentliche Kostenfaktor eines Kapitalisten ist die Bezahlung des in die Produktion eingehenden Inputs an Rohstoffen, Energie usw. Der dritte Kostenfaktor ist die Besteuerung in all ihren Formen, eine Erscheinung, die im gesamten System die Norm ist. Wenn man nun die Geschichte dieser drei Faktoren Personal, Input und Steuer betrachtet, zeigt sich, dass die Kosten dafür in den letzten 500 Jahren beständig anstiegen. Gleichzeitig bemerkt man, dass es eine Grenze dafür gibt, wie stark die Preise steigen können. Diese Grenze ist die Bereitwilligkeit der Menschen Güter zu kaufen. Es gibt also seit 500 Jahren ein Ansteigen der Kosten bis zum Erreichen von, wie ich es nenne, Asymptoten. Kommen die Kosten nun zu nahe an die Spitze, beginnt das System zu schwingen und es entstehen enorme Verschiebungen. Dies ist eine chaotische Situation und dort befinden wir uns gerade. Darüber habe ich an verschiedenen Stellen in großem Detail geschrieben. Grundsätzlich gilt, dass es für Kapitalisten nicht mehr möglich ist, Kapital wirklich anzuhäufen.  Da dies aber die gesamte Motivation für das kapitalistische System darstellt, verliert es aus der Sicht des Kapitalisten seinen Sinn. Sicher machte es aus Sicht der Weltbevölkerung, die ausgebeutet wurde, nie Sinn.  Das ist nicht neu, das ist eine eine Konstante. Der Punkt ist nicht, dass die Weltbevölkerung heute stärker aufgebracht ist, als sie es jemals war. Was sich wirklich verändert hat, ist das Ausmaß, in welchem das kapitalistische System dem Kapitalisten noch nützlich ist. Das ist die strukturelle Krise des Systems, und in dieser befinden wir uns heute.

Fabian Scheidler: In Europa stagnieren die Kosten für Arbeit, die Einkommen sinken zum Teil soagr. Durch die  Globalisierung wandert die Produktion nach Rumänien, nach China, in billigere Länder ab. Es gibt Steuersenkungen für die großen Unternehmen undsoweiter. Daher ist es für uns ungewöhnlich zu hören, dass die Kosten für Unternehmen sich erhöhen würden.

Immanuel Wallerstein: Sie müssen berücksichtigen, dass die Kosten immer hoch und wieder runter gehen. Wenn Sie betrachten, wie es mit den Niveaus der Kosten in den letzten 500 Jahren funktioniert hat, dann sehen Sie, dass in Zeiten des Wachstums, die etwa 25 bis 30 Jahre dauern – wir nennen sie Kondratjev-Phasen – die Kosten nach oben gehen. In Zeiten der Stagnation gehen die Kosten dann wieder nach unten, sie werden nach unten gedrückt, – aber niemals so stark, wie sie zuvor anstiegen. Das nenne ich den Zickzack-Effekt. Die Kosten gehen um zwei nach oben, um eins nach unten, um zwei nach oben, um eins nach unten – und das passierte während der letzten 500 Jahre. Nehmen Sie zum Beispiel die heutigen Kostenund vergleichen diese Kosten nicht mit denen von 1970 – denn das war einen Kostenhochpunkt, die Kosten sind heute geringer – sondern mit denen von 1945: Dann sehen Sie, dass die Kosten heute höher sind als 1945. Die Kosten für Arbeit sind von 1945 bis 1970 gestiegen, von 1970 bis 2010 sind sie wieder gesunken – das ist gar keine Frage – aber eben nicht bis zum Niveau von 1945! Wenn man in der Zeit zurück geht, kann man dies leicht in Form einer Grafik darstellen. Die Kosten gehen immer wieder um zwei nach oben und wieder um eins nach unten. Beginnt man nun, diesen Anstieg anhand einer Skala zu messen, auf der das Maximum der Kosten für z.B. Arbeit mit 100% gleichgesetzt ist, und beginnt bei 20%, dann gehen die Kosten auf 30% nach oben, wieder runter auf 25%, wieder hoch auf 35%, runter auf 30% usw. Erreicht man 80%, ist das System zu nah am Maximum und beginnt destabilisiert zu werden.  Es gibt also eine Grenze dafür, wie lang man dieses System betreiben kann.  Wir haben das seit 500 Jahren getan und es hat sehr gut funktioniert.  Gemessen an seinen eigenen Maßstäben, war der Kapitalismus ein umwerfend erfolgreiches System. Er hat die Ziele erreicht, zu denen er aufgebrochen war, und das war die enorme Expansion des angehäuften Kapitals. Aber er kann nicht weiter damit fortfahren. Er hat die Grenze dessen, was möglich ist, erreicht. An diesem Punkt verliert dieses System seine Bedeutung für den Kapitalisten selbst. Wenn er kein Kapital mehr anhäufen kann, warum sollte er Mühe und Energie aufbringen? Ich denke, dies ist die gegenwärtige Situation. Ich sage dies als Analytiker. Wenn Sie mich fragen, ob jeder Kapitalist dieser Welt das versteht, dann muss ich sagen: Nein, nicht jeder Kapitalist versteht dies. Auch nicht jeder Arbeiter versteht dies. Aber es gibt genug, die es verstehen. Die objektive Realität ist die, dass die Leute gezwungen werden, bestimmte Entscheidungen zu treffen. In der gegenwärtigen Phase, wie immer während einer langen Stagnation, wird Geld nicht durch Produktion geschaffen, sondern durch Finanz-Spekulationen. Spekulationen funktionieren, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Spekulationen funktionieren, indem Menschen sich verschulden. Wir hatten überwältigende Blasen seit den 70er Jahren. Eine nach der andern, und die große Krise von 2007, 2008 war nur die vorletzte, es wird nicht die letzte sein. Die letzte wird die der verschuldeten Regierungen sein, die, eine nach der anderen, unter ihren Schulden zusammenbrechen werden, weil sie keinen Weg finden, um sie zu bezahlen. Daher denke ich, dass der Kapitalismus als System in großen Schwierigkeiten steckt. Die Frage ist, was nun passieren wird. Hier sage ich, dass das System sich verzweigen wird. Es gibt zwei Alternativen. Die eine ist für diejenigen, die jetzt privilegiert sind und sich wünschen ihre Privilegien zu erhalten. Die Alternative für sie wäre ein anderes System, in dem sie dieselben Privilegien hätten. Das wäre eine Art System, welches hierarchisch, ausbeuterisch und polarisierend ist. Es muss kein kapitalistisches System sein. Ein kapitalistisches System ist nicht das einzige System, in dem dieses Ziel erreicht werden kann. Tatsächlich könnte es ein viel schlimmeres System sein. Der Kapitalismus muss nicht das schrecklichste System sein, das die Welt gesehen haben wird. Dies war die Alternative A. Alternative B ist das genaue Gegenteil. Es wäre ein System, das verhältnismäßig demokratisch und verhältnismäßig egalitär ist. Ein System, das die Welt bisher noch nicht gesehen hat. Grundsätzlich ist das unsere historische Wahl. Ein weiterer Bestandteil  der System-Verzweigung  ist, dass es grundsätzlich unmöglich ist vorherzusagen welche Entscheidung wir kollektiv treffen werden. Diese Entscheidung ist das Ergebnis von unendlich vielen, einzelnen Entscheidungen, getroffen von unendlich vielen Personen in einer Unendlichkeit von Momenten, und es ist unmöglich darüber eine Vorhersage zu treffen. Man kann nur vorhersagen, dass das System zusammenbrechen und eine Entscheidung getroffen werden wird. Im politischen Kampf der nächsten 20, 30, 40 Jahren wird es darum gehen, das System in die eine oder andere Richtung zu lenken. An irgendeinem Punkt, wird das System mehr oder weniger mit Sicherheit in eine bestimmte Richtung kippen. Dann wird eine neue Ordnung entstehen, ein neues System, dass sich so lange hält, wie seine natürliche Lebenserwartung es eben zulässt. In weiteren 500 oder 1000 Jahren könnte das System erneut in Schwierigkeiten geraten, aber wir werden nicht hier sein, um uns darüber Sorgen zu machen. Was ich sagen kann, ist, dass wir im Jahr 2050  in einem anderen System leben werden. Ich weiß nicht in welcher Art von System. Ich weiß, welche Art von System ich bevorzugen würde, aber nicht, in welchem System wir leben werden.