14.12.2012
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Einleitung: 

Fast zwei Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings zieht Achcar Bilanz: Es sei ein langfristiger revolutionärer Prozess. "Das ist nur der Anfang. Denn die Ursachen der Proteste waren nicht einfach die damals herrschenden Regierungen bzw. Regime sondern soziale und ökonomische Probleme. Das zentrale Problem war die Arbeitslosigkeit." Daran habe sich nichts geändert. In Ägypten setze die Mursi-Regierung die neoliberale Wirtschaftspolitik Mubaraks durch ein Übereinkommen mit dem Internationalen Währungsfond fort. In Bahrein fänden weiter große Demonstrationen statt, während Syrien im Bürgerkrieg versinke. "Man kann sicher sein, dass in Tunesien und Ägypten, wo alles seinen Anfang nahm, in Zukunft viele Umbrüche, Wechsel, Massenbewegungen, Mobilisierungen und Aufstände stattfinden werden."

Gäste: 

Gilbert Achcar: Politologe und Soziologe an der "School of Oriental and African Studies", University of London, Autor u.a. von "Die Araber und der Holocaust" und mit Noam Chomsky "Perilous Power"

Transkript: 

David Goeßmann: Ich möchte noch über die arabische und nord-afrikanische Region fast zwei Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings sprechen. In Libyen hat die Übergangsregierung die Macht an ein gewähltes Parlament übergeben, aber die Situation im Land ist chaotisch. In Syrien herrscht ein nicht enden wollender blutiger Bürgerkrieg. Die Regime in Saudi Arabien und Bahrein sind weiter an der Macht. Wie sieht die Situation im Moment aus? Was hat die Revolution bisher erreicht? Und was sind die Interessen der USA und Europas in der Region?

Gilbert Achcar: Für mich ist das, was mit dem 17. Dezember 2010 begann, als sich der junge Mann Mohamed Bouazizi in Tunesien selbst anzündete, ein langfristiger revolutionärer Prozess. Es handelt sich nicht um 3 Wochen, 6 Monate oder so und dann gibt es ein gewähltes Parlament und das war es dann. Nein, das ist nur der Anfang. Denn die Ursachen der Proteste waren nicht einfach die damals herrschenden Regierungen, also die Regime, sondern soziale und ökonomische Probleme. Das zentrale Problem war die Arbeitslosigkeit. Diese Region leidet seit Jahrzehnten unter Rekordarbeitslosigkeit. Es trifft vor allem die Jugend. Revolutionäre Bewegungen sind immer jung. Es waren daher vor allem die jungen Leute, die die Aufstände getragen haben. Diese Bewegungen verbreiteten sich von Tunesien über die ganze arabisch sprechende Region und auch darüber hinaus. Hier im Haus der Kulturen der Welt findet zum Beispiel eine Ausstellung über den sogenannten Senegalesischen Frühling statt. Die Ziele, die erreicht wurden, sind von Land zu Land verschieden – und wie gesagt, immer noch in einem Prozess begriffen. In Tunesien gab es einen Regimewechsel, aber die soziale Struktur, die Sozial- und Wirtschaftspolitik wurde nicht angetastet. Es gibt eine Fortsetzung des alten Regimes jetzt mit den Muslimbrüdern, der Nahda, die diese Politik tragen. In Ägypten hat es noch weniger Regimewechsel gegeben, dort herrscht Kontinuität. Ökonomisch herrscht eine totale Fortsetzung der alten Politik. Die ägyptische Regierung hat gerade ein Übereinkommen mit dem Internationalen Währungsfond unterzeichnet, das dieselben Strukturanpassungsmaßnahmen enthält, die schon unter Mubarak vorherrschten. Also es werden keine Lösungen für die wirklichen Probleme im Land angegangen. In Libyen fand ein radikalerer Sturz des Staates, des Regimes, statt als in Tunesien oder Ägypten. Nun, Gaddafi das Militär zu einer Art Leibgarde umgewandelt, die das Regime schützte. Die Revolution konnte also nur gewinnen, wenn sie diese Macht brechen würde. Doch wenn man einen Staat bricht und das in einem Land, das 42 Jahre lang von einem diktatorischen Staat beherrscht wurde und es keine Besatzungsmacht gibt, da die Libyer jede Art von Bodentruppen aus dem Ausland ablehnten, dann entsteht natürlich eine chaotische Situation. Das Wunder ist, dass es dort nicht noch chaotischer geworden ist. Die Libyer schafften es zum ersten Mal in ihrer Geschichte, freie Wahlen abzuhalten. Das ist ein Erfolg, trotz aller Probleme, die Sie genannt haben. In Jemen ist die Revolution praktisch zunichte gemacht worden durch einen Kompromiss, der dem Land von den Golfstaaten und den USA diktiert wurde. Dieser Kompromiss löst nicht einmal die elementarsten politischen Probleme und die Misere geht weiter. Bahrein wurde die Bewegung unterdrückt mit Hilfe der Golfstaaten. Aber die Proteste gehen weiter, es gibt täglich große Demonstrationen. Es ist längst noch nicht vorbei in Bahrein. Syrien befindet sich mitten in einem Bürgerkrieg. Die Kämpfe dauern an, weil der Aufstand einem mächtigen Militärapparat mit enormen Ressourcen gegenüber steht. Bürgerkriege, das zeigt die jüngste Geschichte, können sehr lange dauern. In Libyen hat die Nato-Intervention diesen Prozess sicherlich verkürzt, auch wenn die Nato versuchte, den Ablauf zu kontrollieren und dabei scheiterte. In Jordanien weitet sich die Revolutionsbewegung aus, man konnte jüngst sehen, dass der Aufstand eine neue Stufe erreicht hat. Selbst in Kuweit, in dieser artifiziellen Gesellschaftsform, gab es vor kurzem eine große Mobilisierung. Man kann sicher sein, dass in Tunesien und Ägypten, wo alles seinen Anfang nahm, in Zukunft viele Umbrüche, Wechsel, Massenbewegungen, Mobilisierungen und Aufstände stattfinden werden. Wie gesagt: Es ist erst der Anfang eines revolutionären Prozesses. Niemand kann vorhersagen, wann dieser Prozess abgeschlossen sein wird. Nehmen wir ein historisches Beispiel, die Französische Revolution. Es handelt sich hier nur um ein Land im Umbruch. Es begann am 14. Juli 1789. Unter Historikern gibt es eine große Diskussion darüber, wann die Revolution endete. Die minimalste Zeitspanne, die angegeben wird, ist 10 Jahre, also bis 1799. Andere widersprechen und setzen das Ende ins 19. Jahrhundert, manche gehen soweit, das Ende ein Jahrhundert später zu datieren. Ich hoffe, dass es für die arabische Revolution nicht ein Jahrhundert dauern wird, um den Prozess zu beenden und ein positives Ergebnis zu erzielen. Aber es wird sicherlich viele Jahre dauern.

David Goeßmann: Sie sind in der internationalen Friedensbewegung engagiert. Sie sind zudem Marxist. Warum engagieren Sie sich politisch?

Gilbert Achcar: Warum ich mich engagiere? Ich denke, dass jedes politisches Engagement mit ethischen Werten verbunden ist, denen man sich verpflichtet fühlt. In meiner intellektuellen Entwicklung schon in jungen Jahren habe ich mich sehr angezogen gefühlt von Werten der Gerechtigkeit, Gleichheit und Selbstbestimmung, der Emanzipation von allen Formen der Unterdrückung. Das ist der Grund, warum ich gegen Unterdrückung und Kriege der Unterdrückung, opponiere die versuchen, Menschen nieder zu halten und zu brechen. Ich bin aber nicht gegen Kriege der Emanzipation und Befreiung. Ich bin kein Pazifist im Sinne von absoluter Gewaltfreiheit, von Gandhi. Nein, ich unterstütze das Recht der Unterdrückten und derjenigen, die unter einem Besatzungsregime leiden, mit allen notwendigen Mittel sich zu wehren und sich für ihre Freiheit und Emanzipation einzusetzen. Meine Motivation wurzelt im Recht der Menschen nach Selbstbestimmung, im Recht, ihre Zukunft frei zu bestimmen, in Gerechtigkeit und Gleichheit. Das ist auch der Grund, warum ich in einem weiten Sinn ein Marxist bin. Ich bin der Meinung, dass die Gesellschaftsform, in der wir leben, eine zutiefst ungerechte Gesellschaft darstellt. Wir brauchen grundsätzliche soziale Veränderungen, um zu einer anderen Gesellschaft und Welt zu gelangen, die weit mehr Gleichheit und Gerechtigkeit als die herrschende bietet.

David Goeßmann: Vielen Dank für das Interview, Herr Achcar.

Gilbert Achcar: Es war mir ein Vergnügen.