08.02.2021

Corona-Relativismus: Der Aufstand gegen das Vorsorgeprinzip

Von: David Goeßmann

 

In den Niederlanden randalierten Jugendliche nachts in den Straßen. Sie haben genug von den Ausgangssperren wegen der Coronakrise, die sie nicht akzeptieren. In Wien kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Coronapolitik-Gegnern bei Protesten mit 10.000 TeilnehmerInnen, darunter auch Rechte und Neonazis. In Brüssel wird von Ausschreitungen berichtet. Immer wieder müssen Partys aufgelöst werden. Je länger die Kontaktbeschränkungen und Lockdown-Maßnahmen gelten, umso mehr macht sich Unmut breit.

Das zeigt sich auch in der veröffentlichten Debatte. Die Kommentare, die den Lockdown in Frage stellen, nehmen zu. In alternativen Medien wie Rubikon, KenFM, Multipolar, RT Deutsch, Sputnik News und auch bei den Nachdenkseiten war Corona-Relativismus, das Herunterspielen und Relativieren der Krise, schon von Beginn an zu besichtigen, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt. Eine Reihe von unabhängigen Medienmachern, Journalisten und Bloggern schien nach dem sonst Regierungen und Konzernen zugeschriebenen Churchill-Motto zu agieren: „Never let a good crisis go to waste“: Nutze die Krise für die eigenen Sache. So beschwören Anti-Establishment-Kritiker wie Daniele Ganser nun ihre Fangemeinden, dass die Eliten mit Virusangst die Bevölkerung auf Linie bringen wollen. Die Vortragssäle sind voll, die Echokammern erschallen, die Youtube-Klicks gehen hoch.

Das Lockdown-Bashing funktioniert aber nur solange, wie man die Pandemie und die Bedrohung relativiert und die Gegenmaßnahmen als willkürlichen Übergriff des Staates präsentiert. Und genau das ist immer wieder geschehen – nicht selten auf Plattformen, die mit dem Anspruch einer verlässlichen, den BürgerInnen dienenden „Gegenöffentlichkeit“ angetreten sind. Es wird Skepsis gesät. Hintergründe und Kontexte werden weggelassen, internationale wissenschaftliche Expertise in Zweifel gezogen (während man Minderheitenmeinungen zum Goldstandard erhebt) und das Vorsorgeprinzip politisch diskreditiert. Das führte am Ende wie schon bei der sogenannten „Flüchtlingskrise“ zu Entfremdung und Vertrauensverlust. So verließ Konstantin Wecker die von ihm gegründete Nachrichtenseite „Hinter den Schlagzeilen“. Er wolle nicht weiter eine Redaktion unterstützen, die die Querdenker-Bewegung weiß wäscht. Andererseits kehrten tausende SpenderInnen der Mobilisierungsplattform Campact den Rücken, weil die Initiative sich gegen die Corona-Leugner gestellt hatte.

In den Mainstreammedien war Corona-Skepsis bisher kaum vorhanden und die Kritik aufs Krisenmanagement der Regierung konzentriert. Jetzt hat der Relativismus aber auch die Leitmedien erreicht. Diese Entwicklung hat wohl auch damit zu tun, dass Teile der Wirtschaft und politischen Klasse unruhig werden angesichts der sich hinziehenden Krise. Sie wollen schnellere Lockerungen bei der Gewerbe- und Konsumfreiheit, aus durchaus verständlichen Gründen. Das spiegelt sich dann auch in der Öffnung des Debattenraums. Anti-Lockdown-Positionen betreten erstmals in prominenterer Form die Bühne. Ein Beispiel dafür ist die Sat1-Frühstücksmoderatorin Marlene Lufen. Jüngst postete sie auf Instagram ein Video, das 10 Millionen Mal angeklickt wurde. Sie spricht darin über häusliche Gewalt, Stress, Depressionen bis hin zum Suizid als Folge der Corona-Maßnahmen. Sicherlich berechtigt, wenn sie dabei nicht Statistiken zitierte, die gar nicht in Bezug stehen zu den Corona-Maßnahmen, oder Vermutungen anstellt über Auswirkungen, bei denen noch gar keine genauen Erhebungen vorliegen. Am Ende heißt es: „Jedes Mal, wenn in den Nachrichten wieder jemand sagt, wir müssen die Zähne zusammenbeißen, hat irgendein Kind zuhause von seinem Vater die Faust im Gesicht (…)“. Der Kurzschluss: Lockdown-Maßnahme gleich Faust im Gesicht von Kindern wird dann auf die politische Bühne katapultiert: „Wir müssen überlegen, ob der Lockdown wirklich das richtige ist“. Anstatt über Wege zu diskutieren, Härten zu mindern, wird der epidemiologische Schutz zum Sündenbock.

Wenn es sich nur um eine vereinzelte TV-Moderatorin und ein Instagram-Video handeln würde, könnte man darüber hinweggehen. Aber es ist deutlich mehr. So wetterte das langjährige Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl kürzlich in der österreichischen Sendung „Talk im Hangar 7“ gegen Lockdowns. Seit an Seit mit Corona- und Klimaleugnern attackierte Prantl im rechtspopulistischen Sender „Servus TV“ pauschal die Schutzmaßnahmen als Eliminierung von Grundrechten – etwas, was er in seinen 33 Jahren als Journalist noch nicht erlebt habe. Es sei ein erschreckender Angriff auf die Demokratie, der ihm Angst mache, so Prantl. Ihm gegenüber saß der Wirtschaftsgeograf Christian Zeller. Er plädierte angesichts von wissenschaftlichen Empfehlungen für europaweit abgestimmte  und effizientere Maßnahmen gegen die anhaltend hohen Infektionszahlen. Zugleich forderte er im Anschluss an die Zero-Covid-Kampagne, die Inzidenzzahlen schnell Richtung Null zu bringen, um wieder Kontrolle über die Infektionsdynamik zu bekommen und Lockerungen damit erst zu ermöglichen. Prantl ging ihn barsch an. Er, Zeller, habe die Studien nicht „gepachtet“ und Virus-Mutationen träten immer auf, seien also keine „Vollkatastrophe“. Dieses „Expertengremium, zu dem sie gehören, dieses Null-Covid-Zeugs, ist für mich ein Desaster, eine Katastrophe“. Die Coronaleugnerin Cora Stephan, die Prantl zur Seite sprang und sich über die Hybris hermachte, mit der Politik sich generell anmaße, das Klima zu retten und Krankheiten auszulöschen, nahm Prantl stumm zur Kenntnis. Auch als die Berliner Zeitung letzte Woche ein Interview mit dem linksliberalen Journalisten brachte, erfuhr man nicht, was Prantl will und auf welcher Grundlage er glaubt, die Pandemie unter Kontrolle bringen zu können. Es blieb beim abstrakten Wettern gegen die, die Grundrechte mit ihrem „Lockdown-Fanatismus“ auslöschen wollen anstatt den Virus zu akzeptieren und „mit der Krankheit“ zu leben.[i]

Erstaunlich bei Prantls Ausfällen gegenüber jenen, die gestützt auf Forschungsempfehlungen besseren, sozialeren Schutz sowie mehr Vorsorge einklagen, ist die generelle Gleichgültigkeit gegenüber dem, was die „Profis“ (um das Bonmot von FDP-Chef Christian Lindner im Zuge der Klimastreiks zu benutzen) über die Notwendigkeit von Lockdowns weltweit zu Tage befördert haben. Zudem ist sein Grundrechte-Absolutismus, der aus Schutzmaßnahmen einen Angriff auf die Demokratie fabriziert, nicht übermäßig glaubwürdig. Denn nach 9/11 rechtfertigte Prantl den US-Angriffskrieg gegen Afghanistan als „gemäßigtes Strafen“, in der Silvesternacht 2016/2017 bezeichnete er die diskriminierende Polizeiaktion gegen Hunderte Dunkelhäutige in Köln als „verhältnismäßig“ und hielt den Flüchtlingsrecht kaltstellenden EU-Türkei-Deal als unvermeidbar, um die „Krise“ unter Kontrolle zu bringen. Die Aushebelung von elementaren Rechten wird von Prantl also immer mal wieder für richtig erachtet, selbst dann, wenn es tatsächlich geboten wäre, Grundrechte zum Schutz von Menschen hochzuhalten. Individuelle Freiheitsrechte in einer Pandemie gegen lebensrettende Schutzmaßnahmen auszuspielen ist hingegen absurd. In einem eskalierenden, nicht kontrollierten Infektionsgeschehen hat niemand das Recht und die Freiheit, andere anzustecken und damit Menschenleben aufs Spiel zu setzen, wenn das vermeidbar wäre. Und ja, der Staat muss dafür Sorge tragen, diese Bedrohung auf Grundlage der Wissenschaft einzuschätzen und so gut es geht zu bannen. Das ist leider nicht immer ausreichend geschehen, darüber sollte man sich beklagen anstatt wohlfeil Lockdown-Frust zu verbreiten. Wie Kritiker Noam Chomsky in der Coronakrise den Freiheits-Verteidigern entgegen hielt: Wer bitte schön dürfe schon auf der Gegenspur fahren oder mit einem Sturmgewehr in einer Menschenmenge herumballern.

Prantl ist nicht der einzige renommierte Journalist, der aus dem Corona-Skeptiker-Gebüsch hervorgetreten ist. Auch seine Kollegin Franziska Augstein hat in ihrer Kolumne auf Spiegel Online genug von den Zaren-Erlassen („Ukas“), die großflächig Kontaktaufnahmen verbieten. Sie spielt dabei die Gefährdung durch die Pandemie herunter, diskreditiert die vorsorgenden Lockdowns und hantiert mit Versatzstücken der Corona-Relativierer. Man wisse gar nicht, ob der Coronavirus die entscheidende Todesursache bei den Coronatoten sei, es gäbe schließlich keine Obduktionen. Viele BewohnerInnen von Altersheimen stürben zudem wegen der Kontaktbeschränkungen an Vereinsamung und ausbleibender Pflege durch Familienangehörige. Die Lockdowns seien schuld, dass die Wirtschaft „sachte stranguliert“ werde und sich die Hungerkatastrophe in Afrika immer weiter verschärfe. Die Bürger, die Schutz vor dem Virus von ihrer Regierung verlangen, werden als „staatsgläubig“ diffamiert. Sie seien es, die Politiker unter Druck setzten, um immer härtere, unnötige und schädliche Maßnahmen zu veranlassen. Demgegenüber werden die Corona-Leugner als Opfer der widersprüchlichen Lockdown-Politik dargestellt. Am Ende kommt der übliche Pandemie-Fatalismus: Deutschland ist keine Insel. „Da helfen kein Lockdown und keine Grenzschließungen“. Richtig an dieser Aussage ist lediglich, dass Deutschland keine Insel ist. Dazu garniert werden Scheinlösungen wie die vom gezielten Risikogruppen-Schutz, um die Gesellschaft vom Lockdown zu befreien. Es sind die üblichen Halb- und Viertelwahrheiten, zusammengemixt zu einem Cocktail, der suggestiv die Schutzmaßnahmen als Staatswillkür an den Pranger stellt. Das ist keineswegs neu, wobei die Argumente der Skeptiker und Coronakrisen-Verharmloser längst entweder widerlegt sind oder in Kontexte eingebettet wurden, die den Behauptungen die Luft ausließen.

Erstaunlich ist, wie man sich nach einem Jahr Corona-Pandemie und ihren Folgen mit der Anti-Lockdown-Bewegung gemein machen kann. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach Normalität im Notstand, der Glaube an die minimalinvasive Lösung. Im Endeffekt wird wissenschaftliche Rationalität untergraben und das Vorsorgeprinzip demoliert. Denn rufen wir uns ins Gedächtnis: Rund 2,3 Millionen Menschen sind nach den Erhebungen der Johns Hopkins University bisher mit und an dem Virus gestorben, wahrscheinlich aber mehr. Tendenz steigend. Das sind die Auswirkungen des Virus trotz weltweiter Lockdowns, Shutdowns, Kontakteinschränkungen, Massentests, strikten Hygieneauflagen, Kontaktverfolgungen, Quarantäne und Isolierungen für Infizierte und Kontaktpersonen, Grenzschließungen und zum Teil extrem runter gefahrener Wirtschaftstätigkeit. Es hätte also alles viel schlimmer kommen können, wäre man den Skeptikern gefolgt. Fast eine halbe Millionen Tote in den USA, über eine Viertelmillion in Brasilien, mehr als 110.000 in Großbritannien: Das ist das Verdienst der Verharmloser in Regierungsverantwortung, der Maskenverachter, der Anti-Lockdown-Führer, der Risiko-Relativierer und der selbst erklärten Laien-Epidemiologen. Dass wir heute über 60.000 Coronatote auch in Deutschland haben – im Moment immer noch 800 bis 1000 Tote jeden Tag – ist das Resultat eines zu späten Lockdowns im Zuge der zweiten Welle, bei dem die Wirtschaft im Prinzip offen blieb: Zehntausende starben, anders als in der ersten Welle. Wie viele Tote es weltweit am Ende trotz Schutzmaßnahmen sein werden wird sich zeigen. Millionen sind zudem erkrankt, zum Teil schwer, manche davon werden bleibende Schäden davon tragen. Was die Mutationen bringen, die mit zunehmender Infiziertenzahl wahrscheinlicher werden, ist offen.

Virologen und Epidemiologen warnten schon früh nach Ausbruch der Pandemie, dass der freilaufende Virus große Teile der Bevölkerungen infizieren werde, mit verheerenden Folgen, wenn nichts getan werde. Die Warnungen waren berechtigt wie auch die empfohlenen Restriktionen, um die Ausbreitung  abzubremsen. Studien zeigen heute, dass die ergriffenen Lockdowns, Hygienekonzepte und Empfehlungen an die Bevölkerung, Kontakte zu reduzieren, vielen Millionen Menschen letztlich das Leben gerettet und eine globale Gesundheitskatastrophe verhindert haben. Über drei Millionen Coronatote sind laut einer Untersuchung allein in elf europäischen Ländern durch die staatlichen Eingriffe in der ersten Welle vermieden worden. Insgesamt wurde aber in fast allen Ländern zu spät und meist nicht entschlossen genug reagiert, in einigen Fällen wie zuletzt in Irland zu früh gelockert. Wie schon gesagt: Regierungen wie die in den USA, Brasilien oder Großbritannien, die lange von „Panikmache“ sprachen, die epidemiologischen Erkenntnisse anzweifelten und später die von der Wissenschaft angeratenen Kontaktbeschränkungen als unnötig bezeichneten, haben durch ihre Laisser-faire-Politik Hundertausende vermeidbare Opfer in ihren Ländern produziert. Schweden, ein Land, das in der ersten Welle auf weniger strikte Kontaktbeschränkungen und Freiwilligkeit setzte, hat ebenfalls vielfach mehr Erkrankungen und Todesfälle pro Kopf hinnehmen müssen als seine skandinavischen Nachbarländer Dänemark, Norwegen oder Finnland, die Lockdowns verordneten. In der zweiten Welle verschärfte die schwedische Regierung daher die Regulierungen und plant nun einen Lockdown, sollten die Zahlen weiter hoch bleiben.[ii]

Kritik an der konkreten Ausgestaltung der Corona-Maßnahmen, am sogenannten „Krisenmanagement“, ist natürlich berechtigt und notwendig. Wie in anderen Krisen war die politische Reaktion weit entfernt davon, angemessen und gerecht zu sein. So hätte die Krise genutzt werden sollen, um mit den Hilfsgeldern die Gesellschaft sozialer und nachhaltiger zu gestalten. Doch das geschah nicht. Statt einen Green New Deal mit den staatlichen Unterstützungssummen anzustoßen erhielt zum Beispiel die Lufthansa AG bedingungslos neun Milliarden Euro an Steuergeldern. Das Management kündigte daraufhin an, fast 30.000 Stellen zu kürzen, sich selbst und den Aktionären aber keine Einbußen aufzuerlegen, während Solo- und Scheinselbstständige, Kleinunternehmer oder prekär Beschäftigte um jeden Euro kämpfen müssen. Auch überlastete Familien, die ihre Kinder zu Hause beschulen, werden bis heute mit ihren Sorgen allein gelassen und mit Brosamen abgespeist. Es mangelte weiter an Geld, Konzepten, Organisation und Willen, um die Härten abzumildern – trotz  persönlichem Einzelengagement. Auch der Schutz von alten Menschen in Pflegeheimen war wegen fehlender Schnelltests und Pflegekräfte nicht ausreichend gewährleistet, mit zum Teil fatalen Auswirkungen. Auch bei Maßnahmen wie Massentests, Maskenpflicht und Nachverfolgung wurde nicht entschlossen genug gehandelt.

Aber Corona-Relativierung und -Skepsis reicht über Kritik an der Ausgestaltung der Maßnahmen hinaus. Den Skeptikern geht es vielmehr darum, die Bedrohung, die Risiken und Folgen der Pandemie herunterzuspielen, um die Lockdowns als unnötig, autoritär und schädlich darzustellen. Die Hardcore-Coronaleugner sind längst widerlegt, ihre Prognosen haben sich heute als das herausgestellt, was sie immer waren: Scharlatanerie. Am Anfang der Pandemie konnten der Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg oder der Mikrobiologe im Ruhestand Sucharit Bhakdi die Wissenslücken und fehlende Erfahrung mit dem neuen Virus noch geschickt ausnutzen. Sie inszenierten sich mit ihrem Fachwissen, ihrer Reputation, als Forschungsdissidenten gegen die Mächtigen in Politik und Pharmaindustrie sowie als Anwälte der Bürger, die sie vor dem autoritären Staat behüten wollen. Ihre Thesen erreichten über alternative Plattformen und Youtube ein großes Publikum. Sie fütterten die Querdenker-Bewegung mit irreführenden Statistiken und falschen Gewissheiten. Sie zu widerlegen ist meines Erachtens genauso zwecklos – reine Zeitverschwendung –, wie Klimawandelrelativierer von ihrer Anti-Ökolobby-Agenda zu befreien. Es ist wie bei der Matroschka: Sobald das eine Argument widerlegt ist, kommt ein anderes zum Vorschein.

Aber es gibt auch die gemäßigten Skeptiker. Sie leugnen nicht gänzlich die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, aber sie relativeren den Grad der Bedrohung und säen Zweifel. Auch sie sprechen von „Alarmismus“ und „Panikmache“ im Angesicht der Pandemie. Eines ihrer Hauptargumente: Die Kollateralschäden der Schutzmaßnahmen seien schlimmer als die möglichen Erkrankungen durch das Virus. Eine Unterstellung ohne Belege. Wie gesagt, Studien zeigen, dass vielfach mehr Menschen an der Viruserkrankung gestorben wären, viele mehr unter schweren Symptomen leiden würden, wenn nicht Lockdowns in kritischen Phasen ergriffen worden wären . Zudem können die „Kollateralschäden“, die persönlichen Belastungen und wirtschaftliche Einbußen im Zuge der Kontaktbeschränkungen, mit Gegenmaßnahmen sozial aufgefangen werden. Zum Teil werden sie das auch. Massentod und Massenerkrankungen in einem exponentiellen Infektionsgeschehen sind demgegenüber weit schwerwiegender und letztlich nicht auszugleichen, schon gar nicht sind sie gegen temporäre Einschränkungen individueller Freiheiten abzuwägen. In Krankenhäusern in Kalifornien müssen Ärzte Geräte und Sauerstoff rationieren, weil sie mit Covid-Intensivfällen überlastet sind. Notfallpatienten müssen de facto aufgegeben werden. Das kommt dabei heraus, wenn eine Regierung wie die Trump-Administration individuelle Freiheitsrechte und den ökonomischen Normalbetrieb über eine Corona-„Grippe“ stellt, mit der wir „leben müssen“.[iii]

Ein zweites zentrales Argument der moderaten Skeptiker ist, dass ein Lockdown nicht nötig sei, wenn Risikogruppen stärker geschützt würden. Es gibt einige Wissenschaftler, die diese Position vertreten. Der prominenteste in Deutschland ist der Virologe Hendrik Streeck. Die Lösung hört sich perfekt an, eine klassische win-win-Situation – aber nur auf dem Papier. Natürlich sollte der Schutz von Risikogruppe verbessert und verstärkt werden. Aber aus guten Gründen haben die Beratungsgremien fast aller Staaten, die von einer Infektionswelle betroffen wurden, diese Lösung nicht als Ersatz für einen Lockdown empfohlen. Denn erstens ist ein lückenloser Schutz selbst für Menschen in Altenheimen in einer Infektionswelle nicht zu gewährleisten. Zweitens gehören bis zu 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland zur Risikogruppe (über 70 Jahre, Vorerkrankungen), von denen viele außerhalb von Einrichtungen leben und daher gar nicht ausreichend geschützt werden können. Wie will man zum Beispiel eine Discounter-Verkäuferin, die zur Risikogruppe zählt, in einer sich durchseuchenden Gesellschaft schützen? Bei stark steigenden Infektionszahlen würden zudem deutlich mehr unter 70-Jährige erkranken, schwer erkranken und an den Folgen sterben. Eine Überlastung lokaler Gesundheitssysteme könnte dann nicht mehr sicher ausgeschlossen werden.

Hendrick Streeck hat seine Skepsis gegenüber Lockdown-Maßnahmen im Nachhinein auch immer wieder revidiert. In der ersten Welle mutmaßte er, dass der Corona-Virus weniger gefährlich sei als ein Grippevirus und daher besondere Schutzmaßnahmen nicht erforderlich seien. Das nahm er später zurück wie auch seine Einschätzung, dass Stoffmasken nichts brächten. Ende Oktober sprach er sich im Angesicht der drohenden zweiten Welle erneut gegen einen Lockdown aus. Mitte Dezember, sechs Wochen später, die Kehrtwende. Jetzt forderte er wegen der steigenden Zahlen einen härteren Lockdown. Der sei notwendig, weil im Sommer nicht frühzeitig Maßnahmen entwickelt worden seien. Genau in jenem Sommer, als Streeck dafür plädierte, mehr Infektionen zuzulassen, um „ein Immunität oder Teilimmunität“ aufzubauen. Der Schlingerkurs ist symptomatisch für die Lockdown-Skeptiker. Er wurzelt nicht nur in wissenschaftlichem Wunschdenken, sondern offenbart einen laxen Umgang mit dem Vorsorgeprinzip. Bei einer globalen Bedrohung mit vielen Unbekannten ins Risiko zu gehen und mit fragwürdigen Annahmen einen angenehmen Weg aus der Krise zu entwerfen, ist gefährlich. Wer trägt denn am Ende die Verantwortung, wenn das worst-case- Szenario eintritt?[iv]

Neben die Lockdown-Skepsis gesellt sich der Impfwiderstand. In den USA wie Europa will sich nur ein Teil, manchmal nicht einmal die Hälfte, gegen Corona impfen lassen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Aber wie der US-Tropenmedizinforscher und Co-Direktor des Impfzentrums in Texas Peter Hotez betont, ist diese Skepsis nicht vom Himmel gefallen. Sie sei das Resultat einer Anti-Naturwissenschaftshaltung, die vor allem von rechten Gruppen verbreitet werde. Impfgegner-Kampagnen hätten Eltern zudem über viele Jahre mit Fehlinformationen verunsichert und dazu gebracht, ihre Kinder nicht mehr zu impfen. Von Wissenschaftsfeinden über Gruppen, die hinter Impfempfehlungen die Profitsucht der Pharmaindustrie vermuten, bis hin zu besorgten Eltern, die dem „widernatürlichen“ Impfsystem mit seinen Impfschäden misstrauen, reicht die Palette.[v]

Sicher, die Coronakrise wird irgendwann unter Kontrolle gebracht werden. Es sollten Lehren daraus gezogen werden, um nicht in die nächste Virus-Welle zu laufen. Die Ursachen von Epidemien und Pandemien wie SARS, Vogelgrippe und auch HIV liegen in Übertragungen von Erregern von Tieren auf den Menschen. Diese treten vermehrt im Zuge intensivierter Landwirtschaft auf, die mehr und mehr vordringt in Lebensräume von wilden Tieren. Gefördert wird die Übertragung zudem durch den starken Einsatz von Antibiotika, Pestiziden und Hormonen in der Tierhaltung, wie Untersuchungen zeigen. Das sollte angegangen werden, um weitere Pandemien erst gar nicht entstehen zu lassen.

Die Coronakrise enthält zudem eine politische Warnung. Die in Deutschland starke Leugnungsbewegung hat deutlich gemacht, dass es in der Gesellschaft brodelt. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Brodeln. Wie bei der Tea-Party-Bewegung in den USA während der Finanzkrise, bei der unter dem Banner individueller Freiheit eine marktradikale, unsolidarische Agenda vorangetrieben wurde, sprach der Straßenfrust unterschiedliche Milieus und Schichten an. Vor allem waren die sogenannte „petite bourgoise“ stark vertreten und anführend, also Kleinunternehmer, Selbstständige und Gutverdiener. Nicht zufällig liegt der Ursprung der Querdenker-Bewegung im wohlsituierten, bürgerlichen „Schwabenländle“. Sie versammelt eine bunte Mischung aus Ärzten, Anwälten und Wissenschaftlern, Pazifisten, Linken und Alternativen, Reichsbürgern, Identitären und Nationalisten, Impfskeptikern, Klimaleugnern und Esoterikern. Es gibt Überlappungen mit dem Pegida-Milieu oder den Anti-Flüchtlingsprotesten. Auch WählerInnen der AfD sind stark vertreten, also einer Partei, die keineswegs die „kleinen Leuten“ repräsentiert, sondern vor allem von denen gewählt wird, die überdurchschnittlich verdienen. Das gleiche gilt für die Trump-WählerInnen in den USA. Überproportional viele Stimmen erhielt der Corona- und Klimaleugner von denjenigen, die zwischen 100.000 und 200.000 Dollar im Jahr verdienen, nicht von den Armen und ganz Reichen. Das sollte man sich klar machen. Es geht um einen breiten gesellschaftlichen Frust, der sich zunehmend, besonders in Krisenzeiten, irrational entlädt.

Die Aufgaben, die in den nächsten Jahren vor uns stehen, sind gewaltig. Die Klimakrise hat unstrittig oberste Priorität und erfordert eine Kursänderung. Sie kann nur in Schach gehalten werden, wenn Vertrauen in Naturwissenschaft, ihre Expertise und Empfehlungen besteht und Anti-Wissenschaft keine Chance hat. Sie kann nur bewältigt werden, wenn die Bürger sich gemäß dem Vorsorgeprinzip verhalten und entsprechend Druck auf die Regierungen ausüben. Die notwendige Energierevolution wird staatliche Eingriffe in die Markt- und Konsumfreiheit beinhalten. Dafür braucht es breite Akzeptanz und die aktive Unterstützung von vielen. Die Coronakrise hat gezeigt, dass Staaten fähig sind, einschneidende Maßnahmen in einer Notstandssituation zu ergreifen und die Bürger Einschränkungen mittragen, wenn sie darin einen Sinn sehen. Die Pandemie macht aber auch deutlich, dass die Unterstützung bröckelt, wenn Misstrauen gesät und die Notwendigkeit von Vorsorge in Frage gestellt wird.

[i] https://www.youtube.com/watch?v=LuSk4PnemGg&feature=emb_title