21.02.2013
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Einleitung: 

Vom Völkermord an den amerikanischen Ersteinwohnern (Native Americans) über die Sklaverei bis zu den imperialen Kriegen in Irak und Afghanistan ziehe sich eine Spur der Gewalt durch die amerikanische Geschichte. Doch im nationalen Mythos der USA hätten diese dunklen Seiten der Geschichte keinen Platz. Die Native Americans seien heute noch immer marginalisiert, mit Lebenserwartungen von zum Teil nur 48 Jahren – die niedgriste Lebenserwartung in Industrieländern. Das Gefängnissystem der USA, das mit  2,2 Millionen Inhaftierten – die meisten davon Afroamerikaner und Menschen lateinamerikanischer Herkunft – neben Russland die höchste Inhaftierungsrate der Welt aufweist, diene dazu, die potentiell rebellische Klasse der Schwarzen, die Jahrhunderte von weißer Vorherrrschaft erlebt hatten, zu brechen.

Gäste: 

Chris Hedges, Journalist, Pulitzer-Preisträger, Wissenschaftler am The Nation Institute, bis 2003  Büroleiter für den Mittleren Osten der New York Times, Buchautor (zuletzt "Days of Destruction, Days of Revolt")

Transkript: 

Theresia Reinhold: Sprechen wir über die Gefängnisse in den USA. Mehr als 2.2 Millionen Menschen sind momentan im Gefängnis, die meisten von ihnen sind Menschen afroamerikanischer oder lateinamerikanischer Herkunft. Was ist der Grund dafür?

Chris Hedges: Menschen afroamerikanischer Herkunft haben als Gruppe traditionell ein höheres Bewusstsein von Machtverhältnissen, weil sie Opfer weißer Vorherrschaft und weißer Macht waren. Unter Clinton wurde das Gefängnissystem erweitert. Dabei handelt es sich um einen Weg eine potentiell rebellische Klasse zu brechen. Deshalb sind die meisten Menschen in den Gefängnissen arm und nicht weiß. 2,2 Millionen Menschen.

Theresia Reinhold: Amerikanische Geschichte wird meist als Geschichte heldenhafter Pioniere und unbegrenzter Möglichkeiten gelehrt ...

Chris Hedges: Dieses Geschichtsbild ist eine Lüge. Fragen Sie die Native Americans und Menschen afroamerikanischer Herkunft nach der Geschichte der Vereinigten Staaten. Sie erzählen eine ganz andere Geschichte. Jedes Land pflegt einen nationalen Mythos, abgesehen vielleicht von Deutschland aufgrund des Traumas des Zweiten Weltkrieges, aber schon wenn man nach Österreich schaut, denkt man, der Zweite Weltkrieg hätte nie stattgefunden, oder dass sie Österreicher die Opfer waren. Und ich glaube, dass ein ähnlicher geschichtlicher Mythos, wie man ihn in Österreich sieht, in den USA sehr präsent ist. Wir üben drastische Handlungen aus: Genozid, Sklaverei, Entrechtung riesiger Teile dieses Landes und wir haben uns nie mit der Gewalttätigkeit konfrontiert, die sich wie ein konstanter Unterton durch die amerikanische Kultur zieht. Nach der Expansion nach Westen haben wir diese Form der Gewalt nach Cuba, auf die Philippinen und natürlich heutzutage in den Irak und Afghanistan exportiert. Und das macht uns zu einem Land mit tiefsitzenden Illusionen, was kein besonders gesunder Zustand ist. Denn wenn man sich selbst so täuscht, dann kann man nicht auf die Realität reagieren.

Theresia Reinhold: Wie ist die Situation der Native Americans heute?

Chris Hedges: Schon um das Jahr 1900 waren 95% der indigenen Menschen bzw. Gruppen Nord- und Südamerikas entweder getötet oder zerstört - von der Zeit der Eroberung bis dahin. Heute leben sie in Reservaten, die ursprünglich Gefängnisse für Kriegsgefangene waren. Sie sind zusammengebrochen, sind äußerst abhängig, es ist eine Kultur der Abhängigkeiten. Ihre Traditionen, Sprache, Religion wurde ihnen genommen. Es gibt Anstrengungen diese wiederzubeleben; aber das Reservat Pine Ridge zum Beispiel ist eine der ärmsten Gegenden dieses Landes, ich habe darüber ein Kapitel geschrieben, dort  beträgt die durchschnittliche männliche Lebenserwartung 48 Jahre - das ist die niedrigste in der westlichen Hemisphäre außerhalb Haitis.

Theresia Reinhold: Hat diese Form der Geschichtsklitterung in den USA einen Effekt auf die heutige Politik?

Chris Hedges: Natürlich. Denn wenn man nicht weiß, wer man ist, oder wenn man sich über sich selbst täuscht, dann versteht man nicht, was man tatsächlich tut. Wir werden im Mittleren Osten gehasst, aus gutem Grund. Dennoch glaube ich, dass wenige Amerikaner ein Gespür dafür haben, wie sehr sie gehasst werden. Und wie die Menschen im Mittleren Osten - die nur eine einzige einfache Forderung haben und das ist, nicht besetzt zu werden - wie diese Menschen auf uns reagieren. So etwas zu sagen, würde in den Mainstream-Medien Amerikas als eine Art umstürzlerische Aussage gewertet werden. Aber als jemand, der sieben Jahre im Mittleren Osten gelebt hat und Arabisch spricht, muss ich sagen, dass es wahr ist.