25.03.2010
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Einleitung: 

Ihr Freund, der Historiker und Aktivist Howard Zinn, der vor kurzem gestorben ist, schreibt in seinem berühmten Buch “A People's History of the United States”: “Ja, wir haben in diesem Land, das von unternehmerischem Reichtum, einer Militärmacht und zwei veralteten politischen Parteien dominiert wird, eine, wie es ein ängstlicher Konservativer einmal ausdrückte “permanente gegnerische Kultur”, die die Gegenwart in Frage stellt und eine neue Zukunft einfordert.” Ich denke, nicht viele Leute hier in Europa, wahrscheinlich auch nicht in den USA, sind vertraut mit dieser Gegenkultur, dieser Welt von Dissidenten und Aktivisten. Welche Bedeutung haben die progressiven sozialen und politischen Bewegungen Ihrer Ansicht nach in den Vereinigten Staaten, insbesondere mit Blick auf die Gegenwart?

Gäste: 

Noam Chomsky, Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge/USA und politischer Aktivist

Transkript: 

David Goeßmann: Ihr Freund, Dissident und Aktivist Howard Zinn, der vor kurzem gestorben ist, schreibt in seinem berühmten Buch “A People's History of the United States”, Zitat: “Ja, wir haben in diesem Land, das von unternehmerischem Reichtum, einer Militärmacht und zwei veralteten politischen Parteien dominiert wird, eine, wie es ein ängstlicher Konservativer einmal ausdrückte “permanente gegnerische Kultur”, die die Gegenwart in Frage stellt und eine neue Zukunft einfordert.” Ich denke, nicht viele Leute hier in Europa, wahrscheinlich auch nicht in den USA, sind vertraut mit dieser Gegenkultur, dieser Welt von Dissidenten und Aktivisten. Welche Bedeutung haben die progressiven sozialen und politischen Bewegungen Ihrer Ansicht nach in den Vereinigten Staaten, insbesondere mit Blick auf die Gegenwart?

Noam Chomsky: Sie sind sehr wichtig. Nehmen Sie zum Beispiel den Irakkrieg und vergleichen Sie ihn mit dem Vietnam-Krieg. Im Vietnam-Krieg konnte man ohne jegliche Einschränkungen bomben. Es gab lange keinerlei gegnerische Kultur.

Ich begann 1963 Reden zu halten über den Vietnam-Krieg. Ich sprach zu vier Leuten in einer Kirche oder in einem Wohnzimmer, das jemand zur Verfügung gestellt hatte. Im Oktober 1965, also ziemlich spät im Krieg, als bereits einige hunderttausend US-Soldaten dort kämpften und Südvietnam praktisch zerstört war, versuchten wir in Boston unser erstes öffentliches Treffen gegen den Krieg zu organisieren.

Boston ist eine liberale Stadt. Wir trafen uns im Boston Common, einem Park, der traditionell für solche öffentlichen Veranstaltungen genommen wird, ähnlich dem Hyde Park. Ich sollte einer der Redner sein, doch das ganze wurde gewaltsam abgebrochen. Durch Studenten. Die liberale Zeitung “Boston Globe” denunzierte die Demonstranten. Der einzige Grund, warum wir nicht umgebracht wurden, war, dass einige hundert Polizisten da waren.

Das war im Oktober 1965, drei Jahre, nachdem der Krieg begonnen worden war. Erst jetzt fanden die ersten Proteste statt, also nach vielen Jahren, in denen die USA Vietnam zerstörten.

Man muss nur die führenden Militärhistoriker lesen, um das zu erfahren. Der respektierteste unter ihnen ist der Vietnam-Spezialist Bernard Fall. Er hatte 1967 Zweifel, ob Vietnam angesichts der Angriffe der größten Militärmaschine, die jemals auf ein Land dieser Größe losgelassen wurde, überleben würde.

Schließlich gab es genug Proteste, so dass die US-Regierung ihre Aktionen drosseln mußte.

Der Fall des Irak ist da anders gelagert. Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass es massive Proteste gab, bevor ein Krieg überhaupt begonnen wurde. Das hat ganz gewiß die Kriegshandlungen eingeschränkt.

Die USA konnten nicht das tun, was sie in Vietnam taten. Es fanden zum Beispiel keine Flächenbombardements von B-52 Bombern statt.

Sicher, auch im Irak wurden viele Verbrechen von den USA begangen, das Land ist praktisch zerstört. Man kann das etwa mit den mongolischen Invasionen vergleichen. Aber es hätte viel schlimmer sein können.

Doch es gab Gegenkräfte, die das verhinderten. Aggressionen und Kriege werden heute begrenzt, weil sie sich mit einer gegnerischen Kultur, einer Gegenkultur, auseinandersetzen müssen. Das zeigt sich auch auf anderen Gebieten.

Zum Beispiel beim europäischen Wohlfahrtssystem. Die sozialen Absicherungen wurden den Bürgern nicht einfach von oben geschenkt. Eine gegnerische Kultur hat sich die Rechte erkämpft. Es waren soziale Bewegungen, die stärker wurden, um schließlich die notwendigen Veränderungen einfordern zu können. Hier liegt die Bedeutung der gegnerischen Kultur.

Überigens, das, was mein langjähriger Freund Howard Zinn da schrieb, wurde angesehen als etwas sehr Radikales und Extremes. Das Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” oder andere sagten, dass Zinn eine Art extremistischer Verrückter ist oder so was. Doch Zinn zitierte im Prinzip Adam Smith. Fast buchstäblich. Adam Smith in “Wealth of the Nations” verwies darauf, dass in England die Kaufleute und Fabrikanten, in deren Händen die Macht damals lag, ihre eigenen Interessen penibel absicherten, unabhängig davon, wie schlimm und abscheulich die Konsequenzen für die Bevölkerung waren. Smith verurteilte die blutige Ungerechtigkeit der Europäer, insbesondere die Engländer in Indien.

Adam Smith ist ein altmodischer, konservativer Traditionalist. Doch er hatte ein moralisches Gewissen. Er war rational. Er konnte erkennen, wie Politik betrieben wird. Heute würde seine Position als extremistisch angesehen: Ein Anzeichen für den Rückgang westlicher Kultur in den letzten Jahrhunderten.

Adam Smith, zwar als Held angebetet, aber nicht gelesen, konnte damals Sachen ausdrücken, die eigentlich Binsenweisheiten sind. Das Gegenstück zu ihm, Howard Zinn, wird hier heute als antiamerikanisch, extremistisch und so weiter denunziert. Das sagt viel über westliche Kultur.

Aber die Beobachtungen von Adam Smith sind korrekt. So ungefähr läuft das Weltgeschehen ab. Und eine gegnerische Kultur kann das bekämpfen und hat das auch über Jahrhunderte getan. Das ist die Art, wie Fortschritt stattfindet.