05.10.2012
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Einleitung: 

Die Obdachlosigkeit in Griechenland ist seit Beginn der Kürzungspolitik sprunghaft angestiegen, ebenso die Selbstmordrate. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent, die Wirtschaft schrumpft seit Jahren. Mit dieser Politik sei ein Ausweg aus der Krise nicht möglich, das Haushaltsdefizit könne nur weiter steigen, sagt Marica Frangakis. Die Rettungspakete würden vor allem dazu dienen, die Gläubiger zu schützen. Mehr als zwei Drittel der Gelder gehen über ein gesperrtes Konto direkt an die Banken, für die Bevölkerung bleibt kaum etwas übrig.

Gäste: 

Marica Frangakis, Vorstandsmitglied des Nicos Poulantzas Instituts, Athen, und Mitglied der EuroMemorandum-Gruppe

Transkript: 

Fabian Scheidler: Willkommen bei Kontext TV.

Marica Frangakis: Ich freue mich, hier zu sein.

Scheidler: Griechenland wird mittlerweile über Jahre einer massiven Kürzungspolitik ausgesetzt und befindet sich inzwischen in einer tiefen Depression. In wie weit wird die griechiche Bevölkerung von dieser Kürzungspolitik getroffen? Einige sprechen schon von einer humanitären Krise.

Frangakis: Wir sind an einem Punkt, an dem diese Kürzungspolitik tatsächlich eine humanitäre Krise, wie sie es genannt haben, ausgelöst hat. Die Zahl der Obdachlosen ist drastisch gestiegen. Obdachlosigkeit war in Griechenland bisher kein großes Problem, weil der Familien-Zusammenhalt immer recht stark gewesen ist. Heute gibt es aber ganze Familien, die ihre Miete nicht mehr zahlen können oder das Darlehen für ihr Haus nicht mehr zurück zahlen können. Obdachlosigkeit ist somit zu einem großen Problem geworden. Weil durch diese Austeritätspolitik sowohl die Einkommen – Gehälter, Renten, Löhne – gemindert als auch die Steuern erhöht wurden, müssen sich viele überlegen, ob sie z.B. die Stromrechnung zahlen oder Milch für die Kinder kaufen. Täglich müssen sie solche Entscheidungen treffen. Tatsächlich ist es auch schon passiert, dass junge Kinder in der Schule in Ohnmacht gefallen sind und hinterher zugegeben haben, dass sie nicht gefrühstückt bzw. für einige Tage nicht ordentlich gegessen hatten. Solche Phänomene sind neu. Sie erinnern an den Anfang des letzten Jahrhunderts als Griechenland ein sehr armes Land war. Ein weiterer „Indikator“ – wenn man so will – ist der rasante Anstieg der Suizidrate. Die Menschen springen vom Balkon, erschießen sich. Es gab den Fall eines Apothekers, eines Rentners, 72 Jahre alt, der sich auf dem Syntagma Platz erschossen und einen Zettel an einem Baum hinterlassen hat. Dort stand: „Weil ich so alt bin, kann ich den Ereignissen nicht standhalten und sehe meinen Freitod als Protest gegen diese Ereignisse.“ Insofern geht die Krise in unserem Land über ökonomische Grenzen hinaus. Es ist nicht nur eine soziale Krise. Es ist mehr. Es ist eine humanitäre Krise. Die Wirtschaft ist um 20 Prozent geschrumpft, die Arbeitslosenquote liegt über 20 Prozent – wir nähern uns den spanischen Verhältnissen – , die Arbeitslosigkeit der jungen Menschen steigt auf 50 Prozent. Die gesamte griechische Wirtschat steckt in großen Schwierigkeiten. Das aber heißt, dass wir die uns auferlegten Ziele nicht erfüllen können. Dass diese fiskalen Ziele eingehalten werden, wird immer unwahrscheinlicher. Und zwar auf Grund der Maßnahmen, die durchgesetzt wurden, um diese Ziele zu erreichen. Es ist in sich widersprüchlich! Man kann das nicht über eine schrumpfende Wirtschaft schaffen. Es dürfte mittlerweile jedem klar sein, dass diese Politik nicht funktioniert. Der Internationale Währungsfonds gibt sogar zu, dass diese Politik nicht funktioniert. Bekannte Ökonomen sind sich an diesem Punkt einig.

Scheidler: Es gab mehrere sogenannte „Rettungspakete“ für Griechenland in den letzten Jahren. Wer bekommt dieses Geld? Hilft es der griechischen Bevölkerung?

Frangakis: Diese Rettungspakete sind so geschnürt – besonders seit dem zweiten – , dass der Staat Geld geliehen bekommt, aber damit zunächst die Schulden – also: die Gläubiger – bezahlt werden, und zwar über ein gesperrtes Konto. Das ist die erste Priorität. Wenn also der griechiche Staat einen bestimmten Betrag aus den zwei Paketen ausleiht, geht das Geld als erstes auf dieses Konto und steht zunächst für den Schuldendienst zur Verfügung. Was übrig bleibt, bekommt der Staat für andere Verpflichtungen: Gesundheitssystem, Bildung, öffentliche Verwaltung, etc. 2/3 des ersten und mehr als 2/3 des zweiten Rettungspaketes werden ausschließlich für die Refinanzierung der griechichen Schulden genutzt. Sie sind dafür da, um die die Gläubiger zu bedienen. Nur was übrig bleibt, geht an die griechische Bevolkerung.