14.12.2012
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Einleitung: 

Die überwiegende Mehrheit der europäischen Juden auf der Flucht vor den Nazis hätte es bevorzugt, nach Nordamerika zu emigrieren - aber die Tore waren verschlossen. "Einen Staat in einer Region, die bei Weitem nicht unbewohnt war, auf Kosten der ansässigen Bevölkerung zu gründen, war der Keim einer Tragödie, deren Früchte wir in den Jahrzehnten seit 1947/1948 ernten", sagt Achcar. Nach der vollständigen Besatzung Palästinas im Sechstagekrieg habe Israel ein internationales Abkommen nach dem Prinzip "Frieden gegen Land" kontinuierlich abgelehnt. Die vollständige Räumung der besetzten Gebiete und palästinensische Selbstbestimmung in den 22 Prozent des noch verbliebenen angestammten Gebietes sei jedoch Minimalbedingung für jede Friedenslösung. Zudem sei es wichtig, im "Krieg der Geschichtsschreibungen" zwischen Palästinensern und Israelis zu vermitteln.

Gäste: 

Gilbert Achcar: Politologe und Soziologe an der "School of Oriental and African Studies", University of London, Autor u.a. von "Die Araber und der Holocaust" und mit Noam Chomsky "Perilous Power"

Transkript: 

David Goeßmann: Es wird in den westlichen Medien viel über den Israel-Palästina-Konflikt berichtet. Doch nur selten werden wichtige Kontexte geliefert wie zum Beispiel Aufklärung über die Frage, warum die UN Resolution 242 von 1967 oder andere international anerkannte Friedenslösungen nicht umgesetzt werden können. Erklären Sie uns, warum es keine Gerechtigkeit und keinen Frieden in Israel und Palästina gibt und wie diese erreicht werden können.

Gilbert Achcar: Ich glaube nicht, dass diese Ereignisse in irgendeiner Weise auf ein fatales Dilemma zurückgehen. Was wir seit 40 Jahren sehen, ist das Resultat von Entscheidungen bestimmter politischer Kräfte, die die Geschicke Israels lenken. Die erste Unausweichlichkeit, die die Leute erwähnen, sind die Überlebenden des Holocaust, des europäischen Nazi-Holocaust, die quasi auf das Volk der Palästinenser gefallen sind. Isaak Deutscher, der berühmte Historiker, hat diese Metapher benutzt, in der jemand, der sich vor einem Feuer zu retten versucht, beim Sprung aus dem Fenster auf jemand anderen fällt. Die Person, die aus dem Fenster springt, sind die Überlebenden des Holocaust und die, auf die sie fällt und ihr die Beine und das Rückgrat bricht, sind die Palästinenser. So lautet die fatalistische Erklärung. Aber wenn man darüber nachdenkt, war das nicht unabwendbar. Geht man ganz an den Anfang dann besteht kein Zweifel, dass die überwiegende Mehrheit der europäischen Juden, die auf der Flucht vor den Nazis waren, es bevorzugt hätten, nach Nordamerika zu emigrieren. Aber die Tür war zu. Sie wären auch gerne nach Großbritannien gegangen, aber auch dort standen sie vor verschlossenen Türen. Diese Länder haben nur einen sehr geringen Prozentsatz der Jugen aufgenommen. Und es wurde versucht das Problem zu lösen, indem Großbritannien, das die Kontrolle über Palästina hatte, die Türen dort öffnet.

David Goeßmann: Und es gab einen starken Antisemitismus in Nordamerika damals.

Gilbert Achcar: ...sicherlich und darüber hinaus gab es den Zionismus, der sich das auch zum Ziel gesetzt hatte. Anstatt weltweit Zuflucht für die jüdischen Überlebenden zu finden konzentrierte sich die zionistische Bewegung voll und ganz auf Palästina. Sie wollten die Zuwanderung nach Palästina, um einen Staat zu gründen. Und das ist der Kern des Staatszionismus' Theodor Herzls, dem Autor von Der Judenstaat, ein jüdischer Staat, ein Staat für die Juden. Ein Staat, der sich so definiert, ist per Definition undemokratisch. Einen Staat in einer Region, die ja auch bei Weitem nicht unbewohnt war, auf Kosten der ansässigen Bevölkerung zu gründen, war der Keim, dessen Früchte wir in den Jahrzehnten seit 1947/1948 ernten. Eine weitere historische Zäsur war die UN-Resolution 242 zur Aufteilung Palästinas. Diese Resolution war eine Reaktion auf die vollständige Besetzung Palästinas, inklusive der 22% des Landes, das den Palästinensern nach der Gründung des Staates Israel 1948 nach dem Krieg zugesprochen wurde. Die Besatzung fand also trotz der arabischen und internationalen Bemühungen um ein Abkommen nach dem Motte „Frieden gegen Land“ statt. Diese Regelung wurde fortlaufend von den israelischen Regierungen abgelehnt. Sogar das Oslo-Abkommen war im Wesentlichen ein Fehlschlag, da Israel sich nur verpflichtet hat, sich aus den bewohnten Teilen des Westjordanlands zurückzuziehen. Nicht aus dem gesamten Westjordanland. Und sie haben den Siedlungsbau an verschiedenen Stellen des Westjordanlands weiter betrieben, ja sogar noch ausgebaut, um ein Vielfaches gemessen an dem, was nach 1967 gebaut wurde. Nach Oslo hat sich die Zahl der Siedler, der Kolonisten, im Westjordanland verdoppelt. Diese Politik ist die Wurzel des Problems. Und das war nicht unvermeidbar. Eine ganz andere Politik wäre möglich gewesen. So viele Menschen, sowohl in Israel als auch in der arabischen Welt, wünschen sich Frieden. Sie hofften, dass ein Austausch „Frieden gegen Land“ möglich wäre. Und dass es zur Gründung eines Staates Palästina käme. Das waren unsere Träume. Natürlich hatte Arafat diesen Traum, aber es hat sich gezeigt, dass das eine Illusion war. Es war eine komplette Illusion und das lag nicht an den Palästinensern. Das liegt auf der Hand. Sie sind die Unterdrückten, nicht die Unterdrücker und auch nicht die Besatzer in diesem Konflikt. Das ist das Entscheidende.

David Goeßmann: Wie könnte eine Friedenslösung umgesetzt werden und welche Rolle spielt die USA dabei?

Gilbert Achcar: Ich würde es etwas nüchtern formulieren: Was sind die Minimalbedingungen für eine Einigung in der Region? Diese Bedingungen sind bekannt. Unter den Palästinensern herrscht Einigkeit darüber, dass diese Minimalbedingung eine vollständige Räumung der 1967 von Israel im Krieg besetzten Gebiete und der Abriss aller israelischen Siedlungen beinhaltet. Dazu wurde ein Dokument verfasst, das von allen wichtigen palästinensischen Gruppen, von Fatah bis Hamas, unterstützt wird. Hinzu kommt natürlich die palästinensische Selbstbestimmung, wenigstens in den 22% ihres angestammten Gebietes. Nicht einmal das wird von Israel akzeptiert. Ohne diese Minimalbedingungen ist nicht mal der Beginn einer Einigung denkbar. Jede - in Anführungszeichen – Einigung wäre dann, wie das Oslo-Abkommen, eine Illusion, die nach wenigen Jahren zusammenbrechen würde und eine noch größere Tragödie nach sich zöge.

David Goeßmann: Ich möchte über Ihr Buch „Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen“ sprechen. Worum geht es bei diesem „Krieg der Geschichtsschreibungen“?

Gilbert Achcar: Der Krieg der Geschichtsschreibungen dreht sich natürlich darum, wie man die Geburt Israels historisch darstellt. Die Erzählung der Zionisten habe ich erwähnt. Es gibt verschiedene Typen dieser Geschichtsschreibung, aber im Wesentlichen wird der Staat Israel als Entschädigung für die Verbrechen des Nationalsozialismus dargestellt. Daraus leitet Israel eine Verantwortung des Westens für Israels Sicherheit ab. Deshalb ist die Antwort auf Antisemitismus und Nationalsozialismus der Zionismus, der israelische Staat. In dieser Deutung sind die Araber die Nachfolger der Nationalsozialisten, da sie diesen Staat ablehnen. Ihr Kampf gegen Israel ist das letzte Kapitel des zweiten Weltkriegs. Das ist die Interpretation. Auf der arabischen und palästinensischen Seite ist diese Interpretation natürlich vollkommen anders. Zuallererst beginnt diese Interpretation nicht mit dem europäischen Antisemitismus. Ihr Anfang ist der Zionismus, und die zionistische Besetzung Palästinas. Der Wendepunkt für die Araber ist die Balfour-Deklaration. 1917 gab Lord Balfour der zionistischen Bewegung im Namen seiner Majestät, im Namen Großbritanniens, das im Zuge des ersten Weltkriegs die Kontrolle über Palästina hatte, grünes Licht für die Besiedlung dieser Gebiete. Aus arabischer Sicht ist es Kolonialismus, der zur Gründung des Staates Israel geführt hat, so wie beispielsweise Rhodesien und andere von Weißen kolonialisierte Länder in Afrika. Die Wahrnehmung Israels in der arabischen Welt ist vergleichbar. Ich denke, dass es notwendig ist, zwischen diesen grundverschiedenen Deutungen zu vermitteln, aber es ist auch wichtig zu bedenken, dass Zionismus, trotz meiner vorherigen Äußerungen, nur eine von vielen Antworten auf den Antisemitismus war. Antisemitismus als Ursache des Zionismus ist nur eine Antwort. Zionismus war für lange Zeit, bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, nur eine Randerscheinung unter den europäischen Juden. Er wurde stärker nach dem Nationalsozialismus, der nun als eine Art Bestätigung der zionistischen Sichtweise erschien. Das muss man berücksichtigen. Es gibt eine Tendenz, diesen Aspekt in der arabischen Welt nicht zu bedenken. In einer karikaturhaft-extremen Weise reagieren dann einige Menschen auf Israels Benutzung des Holocaus mit Holocaust-Leugnung, was natürlich völlig blödsinnig und dumm ist. Ich sage blödsinnig und dumm, denn die, die den Holocaust leugnen, denken, das wäre antizionistisch. Es ist das Gegenteil, es ist Wasser auf die Mühlen der zionistischen Ideologie. Diesen Krieg der Geschichtsschreibungen, den ich gerade zusammengefasst habe, analysiere ich detailliert in meinem Buch.