11.07.2013
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Einleitung: 

Seit 2006 lautet der Auftrag der Grenzschutzagentur Frontex, „Flüchtlinge abzuwehren“. Frontex bildet auch einen zentralen Baustein für das europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR, das 2011 gegründet wurde, um weitere High-Tech-Überwachungstechnologien wie Landroboter einzuführen. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung belaufen sich die Gesamtkosten von EUROSUR auf etwa eine Milliarde Euro. Profiteure sind vor allem Rüstungsunternehmen. Alessane Dicko von der Vereinigung malischer Vertriebener wirft der EU Doppelzüngigkeit vor: Sie fördere scheinbar Freiheitsbestrebungen in Nordafrika, verhindere aber zugleich die Bewegungsfreiheit der Menschen. Die EU dränge überdies die Länder Nordafrikas zu verschärften Kontrollen in der Sahara, um Migranten aus südlicheren Ländern abzufangen, bevor sie überhaupt europäische Grenzen erreichen können.

Gäste: 
Alessane Dicko, Vereinigung der Vertriebenen aus Mali (AME)
Sinda Garziz, Bewegung „Article 13“, Tunesien
Abdul Kadir, Flüchtling aus dem Tschad im Lager Choucha, Tunesien
Judith Kopp, Pro Asyl, Frankfurt/M.
Tobias Pflüger, Informationsstelle Militarisierung, Tübingen
Transkript: 

Kontext TV: Im Zentrum der Kritik an der Flüchtlingspolitik der EU steht die 2004 gegründete Grenzschutzagentur Frontex. Mit einem Budget von 85 Millionen Euro und einer schnell wachsenden Flotte von Hubschraubern, Flugzeugen und Schiffen – in naher Zukunft auch Militärdrohnen – überwacht die Agentur die europäischen Außengrenzen. Seit 2006 greift sie auch aktiv zu Land und zu See ein, um – wie es heißt – „Flüchtlinge abzuwehren“. Menschenrechtsorganisationen beschuldigen Frontex in zahlreichen Fällen, Flüchtlingsboote gegen internationales Recht abgedrängt und zur Rückreise gezwungen zu haben – oft mit tödlichen Folgen für die Besatzungen. Frontex bildet auch einen zentralen Baustein für das europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR, das 2011 gegründet wurde, um weitere High-Tech-Überwachungstechnologien wie Landroboter einzuführen. Laut einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung belaufen sich die Gesamtkosten von EUROSUR auf etwa eine Milliarde Euro. Profiteure sind vor allem Rüstungsunternehmen.

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Etwa 200.000 Menschen flohen während des libyschen Bürgerkriegs und der NATO-Intervention aus Libyen, die meisten davon nach Tunesien. Doch EU- und NATO-Staaten nahmen davon nur etwa 25.000 Menschen auf. Tunesien – selbst noch mit den Folgen der eigenen Revolution beschäftigt – war mit der Flüchtlingswelle überfordert. Alessane Dicko von der Vereinigung malischer Vertriebener wirft der EU Doppelzüngigkeit vor: Sie fördere scheinbar Freiheitsbestrebungen in Nordafrika, verhindere aber zugleich die Bewegungsfreiheit der Menschen. Die EU dränge überdies die Länder Nordafrikas zu verschärften Kontrollen in der Sahara, um Migranten aus südlicheren Ländern abzufangen, bevor sie überhaupt europäische Grenzen erreichen können.

Alessane Dicko: Wir halten sie für einseitig und widersprüchlich. Einerseits hat die NATO der Revolution in Libyen zum Sieg verholfen. Dadurch aber sind viele Menschen zu Migranten geworden und in eine Notlage geraten. Die EU hat nichts unternommen. Die Flüchtlinge kamen nach Choucha. Nur wenigen hat man erlaubt, sich niederzulassen. Ein kleiner Teil ist nach Europa gekommen – zunächst vor allem Tunesier, denn auch in Tunesien hat es eine Revolution gegeben. Menschen sind von dort nach Lampedusa aufgebrochen. Aber ein kleines Kontingent wurde auch offiziell aus Choucha nach Italien und in geringem Umfang nach England und Deutschland übergesiedelt. Das war jedoch keine ausreichende Lösung. Menschen wollen sich sicher fühlen. Manche Migranten aus Côte D’Ivoire können nicht zurück in ihr Land, weil sie dort in Gefahr wären. Einige haben Meinungen vertreten, die sie das Leben kosten könnten. Was in Somalia los ist weiß man – mit Frieden hat das nichts zu tun. Dorthin kann man also niemanden zurückschicken. Das Gleiche gilt für den Sudan. Mittlerweile ist das Land geteilt, aber einige Menschen sind vor der Teilung geflohen. Sollen sie jetzt in den Nord- oder in den Südsudan zurückkehren? All das sind Probleme. Die EU sollte eine Neuansiedlung fördern denn nicht nur in Libyen, sondern auch in Tunesien hat eine Revolution stattgefunden, die auch Fragen der Migration betrifft. Nach dem Machtwechsel in Tunesien haben Länder wie Italien Verträge mit der neuen Regierung unterschrieben, um Frontex noch weiter zu auszubauen und Migration auf dem Seeweg noch effektiver abzuwehren. Das ist gegen internationale Konventionen, verstehen Sie? Das gleiche ist in Libyen passiert. Die EU hätte also eine Rolle zu spielen, aber die Antworten, die sie gibt, entsprechend den Bedürfnissen der Menschen nicht. Denn normalerweise sollte eine Revolution ja Grenzen öffnen. Besonders in Tunesien war die Öffnung der Grenzen, die Öffnung gegenüber der Außenwelt ein Anliegen, denn die Leute fühlten sich wie in einem Gefängnis. Man kann keinen demokratischen Wandel in Tunesien wollen und den Tunesiern gleichzeitig das Mittelmeer versperren. Aber nach Tunesien kommen auch Menschen aus der Subsahara-Region und anderen Ländern und daher verlangt die EU den nordafrikanischen Ländern in ihren Verträgen eine Verstärkung der Kontrollen ab. Damit schadet sie den Migranten, obwohl diese an der Revolution beteiligt waren. Das gilt für Libyen ebenso wie für Tunesien. Trotzdem haben die Ausländer durch die Revolution nicht mehr Rechte erhalten, nicht einmal die Reisefreiheit. Hierin besteht unser Problem mit der EU. Einerseits hilft sie der Revolution und den Revolutionären aber anderseits fordert sie dichte Grenzen, um die Menschen fernzuhalten. In Europa schürt man ständig Angst, dabei wollen die Menschen doch nur leben. Sie wollen eine offenen Raum und nach Belieben kommen und gehen dürfen! Was bringt die tunesische Revolution, wenn die Tunesier nicht mit dem Schiff über das Mittelmeer und zurück fahren dürfen? Nichts! Und genau das meine ich.

Wir fordern von der EU, genau aufzupassen. Denn die Verträge zur Kontrolle der Einwanderungsströme, die Abschiebeverträge, sogar die europäische Nachbarschaftspolitik droht, Nordafrika von der Subsahara-Region abzuschneiden. Dadurch entsteht eine rote Linie. Und die EU zwingt Länder wie Mauretanien, Algerien, Tunesien, Marokko und Libyen auch, Grenzkontrollen durchzuführen, damit es keine Beziehungen, keinen Austausch zwischen Subsahara-Afrika und dem Maghreb gibt. Es wird so getan, als wolle jeder, der nach Nordafrika kommt, nach Europa auswandern. Unsinn! Viele leben seit langer Zeit im Maghreb – wir sind da! Und auch Menschen aus den Maghreb-Ländern wollen nach Europa. Man darf sich nicht immer nur auf die Menschen aus der Subsahara konzentrieren, die nach Europa wollen. Auch die Tunesier möchten nach Europa. Die „Harragas“, die ihre Papiere verbrennen, bevor sie sich einschiffen, kommen aus Algerien, Tunesien und Marokko. Doch die EU zielt bei ihrer Zusammenarbeit mit Nordafrika vor allem auf die Verstärkung der Südgrenzen gegenüber der Subsahara-Region. Das ist äußerst beklagenswert. Wir wollen Beziehungen auf Augenhöhe, wir wollen, dass die Entwicklungshilfen wirklich für Entwicklung, das heißt für Gesundheit, für Bildung und für soziale Projekte ausgegeben werden, für Dinge die das Wohlbefinden der Menschen steigern und ihr Leben verbessern. Aber die meisten Entwicklungsgelder werden in die Sicherung der Grenzen, die Ausbildung der Polizei, die Identifikation illegaler Migranten und die Prüfung der Papiere gesteckt, also in die einzelnen Glieder einer logistischen Kette, die den Menschen ihre Bewegungsfreiheit nimmt.Dieses unmenschliche Vorgehen verurteilen wir.

Kontext TV: Im tunesischen Flüchlingslager Choucha warten Hunderte von Flüchtlingen aus Libyen, dem Sudan und anderen Ländern darauf, in einen sicheren Drittstaat ausreisen zu können. Die Mehrheit von ihnen ist vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge offiziell anerkannt. Doch statt Asyl in Europa zu bekommen, sollen sie in Tunesien bleiben, wo es noch immer keine Garantie für Flüchtlingsrechte gibt – und sich viele von ihnen rassistischen Übergriffen ausgesetzt sehen. Aus diesem Grund traten einige von ihnen im April erneut in den Hungerstreik.

Sinda Garziz: Das Lager entstand vor zwei Jahren als viele vor dem Krieg in Libyen nach Tunesien flohen und dort Asyl suchten. Im März 2011 waren es etwa 4000 Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern, hauptsächlich aus der Subsahara-Region. Die Menschenrechtslage war im ersten Jahr nach der Errichtung relativ gut. Viele Hilfsorganisationen kümmerten sich um die Flüchtlinge und arbeiteten in humanitären Fragen mit dem UNHCR zusammen. Aber seit einem Jahr wird in Choucha nichts mehr getan. Im Lager sind nur noch durch das UN-Flüchtlingshilfswerk und der dänische Flüchtlingsrat DRC vertreten und sie tun kaum etwas. Sie lassen die Flüchtlinge nur dort, weil sie von der tunesischen Regierung verlangen, sie zu integrieren. Das aber ist in Tunesien derzeit nicht möglich, selbst wenn die Regierung einwilligen würde, weil die Flüchtlinge selbst das ablehnen würden und weil die Lage in Tunesien zu instabil und problematisch ist. Sie zu integrieren ist utopisch, auch wenn wir es gerne würden.

Im Oktober letzten Jahres hat das UNHCR außerdem verkündet, keine Lebensmittel mehr an die Flüchtlinge zu verteilen, insbesondere nicht an diejenigen, die keinen offiziellen Status besitzen. Sie erhalten keine Nahrungsmittel und auch keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung mehr. Ich war im November dort und habe gesehen, wie schlimm die Verhältnisse sind. Es gibt also in Choucha keine Menschenrechte und das scheint auch niemanden zu stören.

Abdul Kadir: Ich komme aus dem Tschad und ich bin hier, um mein Recht einzufordern, mein Recht gehört zu werden. Ich bin vor zwei Jahren aus Libyen geflohen, aber das UNHCR kümmert sich nicht mehr um uns Flüchtlinge. Wo sollen wir jetzt hingehen? Wir haben es dort im Moment sehr schwer. Sie haben angekündigt, das Lager in nur einem Monat zu schließen. Aber was wird dann aus uns? Werden die tunesischen Behörden uns verhaften, wenn sie das Lager auflösen? Wir brauchen jede Hilfe und Unterstützung, damit wir wenigstens in Tunesien bleiben können. Dazu sind wir ja bereit. Wir bitten die Regierung, uns zu helfen und das UNHCR, uns als Flüchtlinge anzuerkennen. Auch Ihren Sender bitten wir um Unterstützung, damit wir den Flüchtlingsstatus erhalten und hierbleiben dürfen. Wir wollen ja hierbleiben. Es ist unmöglich für mich, in den Tschad zurückzukehren. Ich käme ins Gefängnis, oder vielleicht würde ich sogar umgebracht. Ich kann nicht dorthin zurück.

Sinda Garziz: Die Lage der Flüchtlinge in Tunesien ist alles andere als gut. Es gibt kein Gesetz, das sie schützt oder ihnen Asyl zusichert. Für alle Flüchtlinge hier ist allein das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zuständig, egal ob sie aus Choucha kommen, aus Libyen, der Subsahara-Region, Algerien oder Marokko. Alle müssen beim UNHCR die Anerkennung als Flüchtlinge beantragen. Die Regierung ist an den Aufnahme- und Asylverfahren nicht beteiligt. Das muss sich ändern, denn Tunesier beantragen im Ausland Asyl, während es hier keine entsprechenden Regelungen gibt. Die Flüchtlinge, mit denen ich Kontakt habe kommen hauptsächlich aus der Subsahara-Region, einige auch aus Algerien. Zwischen den arabischen Ländern besteht eine größere Solidarität – als Algerier oder Marokkaner wird man hier leichter akzeptiert, als wenn man aus einem Subsahara-Land kommt. Das hat auch etwas mit Rassismus zu tun. Warum kommen Menschen nach Tunesien? Wollen sie hierbleiben oder weiterziehen? Tunesien ist sicher für viele ein Transitland. Umfragen unter Migranten aus Subsahara-Ländern zeigen, dass sie nach Europa wollen, egal ob sie mit einem Visum oder illegal hier sind. Sie wissen, dass Sie wegen des Rassismus und des fehlenden Asylsystems nicht hier bleiben können. Flüchtlinge haben es also sehr schwer hier. Das Flüchtlingslager Choucha existiert nun seit zwei Jahren und wir verlangen politische Maßnahmen zur Wahrung der Rechte der Flüchtlinge und zur Einführung eines Asylstatus. Bisher ist allerdings nicht passiert.