02.11.2012
Share: mp3 | Embed video
Einleitung: 

Im jüngsten Wahlkampf wurden die Sorgen der Amerikaner nicht einmal thematisiert: Nichts war zu hören von Klimaschutz, Armut, der Zerschlagung der übermächtigen Finanzindustrie, es gab keine Debatten über die Reduzierung des aufgeblähten 400 Milliarden-Pentagon-Budgets, das Ende von Krieg und Folter. Stattdessen boten die Kampagnen Schlagworte wie „Rebuild America“, „Wir bauen Amerika wieder auf“, während die Finanzindustrie und Investoren wie die einflussreichen Koch-Brüder Unsummen in den Wahlkampf der Demokraten und Republikaner pumpten. Doch es gibt auch eine alternative Agenda für den Wiederaufbau Amerikas jenseits von Romney und Obama.

Gäste: 

Amy Goodman: Moderatorin von Democracy Now!, Trägerin des Alternativen Nobelpreises und Autorin von "The Silenced Majority"; Medea Benjamin: Gründer der Frauenaktivistengruppe Code Pink und Autorin von "Drone Warfare"; Michael Albert: Gründer von ZCommunications und dem South End Press Verlag, Autor von "Beyond Capitalism"; Bill McKibben: Umweltjournalist u. -aktivist, Gründer von 350.org, Autor von "The End of Nature"; Vivek Chibber: Soziologe an der New York University, Mitarbeiter Brecht Forum und Left Forum; Benjamin Day: Aktivist bei MassCare

Transkript: 

Fabian Scheidler: Im jüngsten Wahlkampf wurden die Sorgen der Amerikaner nicht einmal thematisiert, weder von den Kandidaten, noch den Mainstreammedien: Nichts war zu hören von Klimaschutz, Armut, der Zerschlagung der übermächtigen Finanzindustrie, es gab keine Debatten über die Einführung einer staatlichen Krankenversicherung, die Reduzierung des aufgeblähten 400 Milliarden-Pentagon-Budgets, das Ende von Krieg und Folter, den Schutz der Bürgerrechte.

David Goeßmann: Stattdessen boten die Kampagnen Schlagworte wie „Rebuild America“, „Wir bauen Amerika wieder auf“, während die Finanzindustrie und Investoren wie die einflussreichen Koch-Brüder Unsummen in den Wahlkampf der Demokraten und Republikaner pumpten. Doch es gibt auch eine alternative Agenda für den Wiederaufbau Amerikas jenseits von Romney und Obama. Wofür Bewegungen, Aktivisten und Dissidenten kämpfen und welche Chancen es auf einen Kurswechsel von unten in den USA gibt, darüber sprachen wir mit Vivek Chibber, Michael Albert, Benjamin Day, Bill McKibben, Amy Goodman und Medea Benjamin:

Vivek Chibber: Die ökonomische Krise kann einzig überwunden werden, wenn die enorme Schuldenbelastung, unter der Privathaushalte und viele Unternehmen leiden, beendet ist. Daher ist ein Schuldenerlass für Haushalte in Form von Hypotheken, Kreditkartenschulden und Bankkrediten unerlässlich. Solch ein Schuldenerlass findet nur dann statt, wenn eine soziale Kraft sich vehement dafür einsetzt. Zweitens müssen Banken in Zukunft anders organisiert werden. In den letzten dreißig Jahren hat die Finanzindustrie die Vorherrschaft bei der Kapitalakkumulation übernommen. Die Alternative dazu ist, dass Banken wie öffentliche Einrichtungen funktionieren. Es sollte ihnen nicht erlaubt sein, von Profiten angetrieben zu werden. Das erfordert ein gewisses Maß an Verstaatlichung der Banken, demokratischer Kontrolle über die Art, wie Kredite vergeben werden, wie Banken öffentlichen Institutionen Geld leihen. Drittens wird es keinen Ausweg aus der Krise geben, außer wenn Regierungen das Geld wieder von den Reichen zu den Armen verteilen. Ein zentraler Faktor, der die Schuldenblase entstehen ließ, waren ja die Kreditkartenschulden, die von den Privathaushalten aufgenommen wurden. So bildete sich dann die Hypothekenblase. Die Privathaushalte in den USA haben in den letzten dreißig Jahren keine Einkommenszuwächse erfahren. Sie mussten also Schulden machen, um durchzukommen. Diese Schulden waren dann verantwortlich für die Hypothekenblase der Finanzindustrie. Es machte die Haushalte auch anfällig für sittenwidrige Bankkredite. Auf lange Sicht ist eine Lösung aus dem Dilemma nur möglich mit einem anderen Wachstumsmodell, das anders verteilt. Das müssen die Regierungen in Europa und den USA einführen. Sie werden es aber nur tun, wenn sie dazu gezwungen werden.

Michael Albert: Wenn man den Leuten heute die Wahrheit über Regierungen, Konzerne oder die globale Erderwärmung sagt, dann sind sie nicht geschockt. Sie sind nicht mal geschockt über biochemische Kriegsführung. Nichts anderes taten aber die USA. Während der Sanktionspolitik hielt unsere Regierung Lebensmittel und Medizin, also biologische und chemische Mittel, gegenüber dem irakischen Volk zurück. Das Opfer war die irakische Bevölkerung. Das ist Terrorismus, biologischer und chemischer Terrorismus gegenüber den Irakern. Eine halbe Millionen Kinder sind dadurch umgebracht worden. Das schockt hier niemanden. Wir gehen einfach davon aus, dass Staaten, insbesondere die USA, solche Dinge tun. Das war 1964 nicht der Fall. Wir waren geschockt, bestürzt und wütend über die Scheinheiligkeit der USA - insbesondere in Vietnam. Heute kann die Leute nichts mehr schocken. Wir regen uns nicht mehr über Doppelmoral auf. Es geht heute also darum den Leuten klar zu machen, dass eine andere Welt möglich ist und dass diese Welt anstrebenswert ist. So kann man sie mobilisieren. Also, eine partizipatorische Ökonomie, wie ich sie als Alternative entworfen habe, versucht die institutionellen Grundzüge für eine anstrebenswerte Wirtschaftsordnung darzulegen wie Arbeiter- und Konsumenten-Councils, ausbalancierte Arbeitswelten, faire Bezahlung und partizipatorische Planung. Es wird dann keine Klassen mehr geben, keine Gruppe von privilegierten Leuten, die die Ökonomie dominieren und sich auf dem Rücken der Mehrheit bereichern. Die Menschen werden ihr Leben selbst kontrollieren und verwalten. Die Ergebnisse werden vielfältiger sein. Eine partizipatorische Ökonomie erzeugt zudem Solidarität zwischen den Menschen. Damit wird verhindert, was u.a. bei Märkten der Fall ist, dass man auf anderen herum trampeln muss, um voran zu kommen. Bei einer partizipatorischen Ökonomie geht es hingegen um wechselseitige Unterstützung.

Benjamin Day: Der Wechsel zu einer staatlichen Krankenversicherung trifft deshalb auf enormen Widerstand, weil so viel Geld im Gesundheitssystem zu verdienen ist. Eine staatliche Krankenversicherung reduziert die Kosten. Jeder Dollar, der so weniger ausgegeben wird, geht an anderer Stelle, in der Gesundheitsindustrie, verloren. Daher kämpft die Industrie dagegen an. Wir versuchen nun eine Koalition für eine staatliche Versicherung mit Gewerkschaften, religiösen Gemeinschaften wie Synagogen, Kirchen und Moscheen, mit Ärzten, Krankenschwestern und Sozialarbeitern, Gesundheitszentren, von hohen Gesundheitskosten strangulierten Unternehmen zu organisieren, also denjenigen, die die Verlierer des gegenwärtigen profitgetriebenen Gesundheitssystems sind. Wir gehen von Stadtteil zu Stadtteil, um die jeweiligen Abgeordneten zu überzeugen, uns bei der Einführung einer staatlichen Versicherung zu unterstützen. Aber das ist, wie man sich vorstellen kann, sehr schwierig.

Bill McKibben: Wissenschaftler haben berechnet, wie viel Kohlendioxidemissionen wir uns noch leisten können, um noch unter der zwei Grad Grenze bleiben zu können und damit dem Klimachaos zu entgehen. Der deutsche Wissenschaftler Malte Meinhausen hat genau diese Berechnungen angestellt. Ungefähr 565 Gigatonnen zusätzlicher Kohlendioxid wäre nach diesen Berechnungen die Obergrenze. Das Problem ist, und das ist die neue, beängstigende Zahl, dass eine Gruppe Finanzanalysten in Großbritannien festgestellt hat, dass die fossile Brennstoffindustrie bereits etwa 2800 Gigatonnen Kohle, Gas und Öl in den Depots hat. Sie wissen, wo die fossilen Brennstoffe liegen, auch wenn sie noch im Boden sind. Ökonomisch gesehen sind sie aber bereits gefördert, denn sie bestimmen die Aktienkurse, die Brennstoffindustrie nimmt mit diesen Rohstoffen als Sicherheit Kredite auf. Diese Brennstoffe werden in die Atmosphäre gelangen, es sei denn, es gelingt uns die Industrie daran zu hindern. Die Schwierigkeiten, in denen wir stecken, sind also absolut real und weit entfernt, reine Theorie zu sein. Wir haben es schwarz auf weiß. Diese Rohstoffreserven wurden der US-Wertpapieraufsichtsbehörden und den anderen Finanzaufsichtsstellen in der Welt gemeldet. Sie haben ihnen gesagt, wie viel Gas, Kohle und Öl sie haben. Sie planen, den Planeten zu Grunde zu richten, und sie werden genau das tun, wenn wir sie nicht stoppen.

Wie kann man sie aufhalten …

Ich bin nicht sicher, ob wir sie stoppen können. Bei einer Wette würde man vermutlich darauf setzen, dass wir es nicht schaffen, aber wir werden es trotzdem versuchen - mit aller Kraft. 350.org, die erste wirklich große globale Graswurzel-Klimabewegung, versucht im Rahmen einer Kampagne Hochschulen, Kirchen und Pensionsfonds zu einer Veräußerung ihrer Beteiligungen an der fossilen Brennstoffindustrie zu bewegen. Wir hoffen, den Erfolg der Bewegung gegen die Apartheid in Südafrika vor 25 Jahren wiederholen zu können. Die Südafrikaner haben natürlich das größte Verdienst an ihrer Befreiung, aber als Nelson Mandela aus der Haft entlassen wurde, bedankte er sich bei amerikanischen Hochschulangehörigen für den wirtschaftlichen Druck, der auf südafrikanische Firmen ausgeübt wurde. Die Herausforderung vor der wir stehen ist sicherlich noch größer, aber wir werden es versuchen.

Medea Benjamin: In all den Jahrzehnten, die ich mich mit politischen Themen befasse, habe ich das Gefühl, dass Regierungen die Tendenz zum Lügen haben. Sie tendieren dazu, uns in Kriege zu führen, an denen wir nicht teilnehmen sollten. Das ist auch der Grund, warum die USA immer weiter abrutschen. Wir rutschen finanziell ab, so dass wir nicht mehr die Möglichkeit haben, unseren Willen in der Welt einfach durchzusetzen, wie es mal war. Echter Patriotismus würde bedeuten, unser Land  von der Weltmachtdominanz wegzuführen, so dass sich die USA in die Staatengemeinschaft eingliedern können. Das hieße auch, hunderte und aberhunderte von Militärbasen im Ausland zu schließen, das völlig überdimensionierte Pentagon zu verkleinern, uns aus fremden Kriegen herauszuhalten. So etwas kann man nicht in ein, zwei Jahren, selbst nicht in einem Jahrzehnt bewirken. Das ist eine Lebensaufgabe. Es ist nun einmal schwerer, Frieden herzustellen als Krieg zu führen.

Amy Goodmann: Wir von Democracy Now haben den Begriff “Exception to the Rulers“, der Ausnahmefall zur Macht, geprägt. Das ist für uns Aufgabe der Medien. Wir dürfen nicht Teil des Parteiensystems werden. Wir müssen die Machthaber zur Rechenschaft ziehen. Es gibt einen guten Grund, weshalb unser Beruf der einzige ist, der ausdrücklich durch die Verfassung der USA geschützt ist. Wir sind die Kontrollinstanz der Macht. Ich habe zusammen mit meinem Bruder David Goodman ein Buch mit dem Titel „Rauschen“ geschrieben. Wir haben das Buch so genannt, da wir trotz digitalem Radio und HDTV im digitalen Zeitalter nur Rauschen empfangen. Ein Schleier an Lügen, Fehldarstellungen, Verzerrungen und Halbwahrheiten vernebelt die Realität. Dabei sollten die Medien ein Rauschen im eigentlichen Wortsinn erzeugen: Kritik, Widerstand, unerwünschte Einmischung. Wir brauchen Medien, die über die Macht berichten und nicht Medien, die berichten, um Macht zu erlangen. Medien, die tatsächlich eine Vierte Gewalt sind und nicht für die Gewalt arbeiten. Und Medien, die von den Bewegungen berichten, die dieses Rauschen erzeugen und Geschichte schreiben. Das wären Medien, die einer demokratischen Gesellschaft dienen.

David Goeßmann: Das war Kontext TV. Weitere Informationen zu unseren Sendungen finden Sie auf unserer Homepage: www.kontext-tv.de. Dort finden Sie auch eine englische Version der Sendung. In den nächsten Wochen werden wir zudem die Interviews mit unseren Gästen in ganzer Länge veröffentlichen. Danke für Zuschauen und Zuhören. Es verabschieden sich Fabian Scheidler und David Goeßmann.