23.05.2014
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Einleitung: 

Ministerpräsident Samaras spricht von einer „griechischen Erfolgsstory“ – doch die Realität sieht anders aus: Die Schulden sind seit Beginn der „Rettungsmaßnahmen“ von 120 % auf 180 % des BIP gestiegen, die Selbstmordrate ist in die Höhe geschnellt. Das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem sei bereits in großen Teilen zerstört, so Chatzistefanou. Existenzangst und Armut würden laut Ärzten langfristig zu einem massiven Anstieg von Herz-Kreislauferkrankungen führen, oft mit tödlichen Folgen. Der angebliche Haushaltsüberschuss sei eine Fiktion, denn die Schulden der Regierung – darunter nicht ausgezahlte Gehälter an Staatsbedienstete – würden nicht berücksichtigt. Die Linke – auch die Partei Syriza – könne dem neoliberalen Programm nur etwas entgegensetzen, wenn große soziale Bewegungen wie in Lateinamerika eine progressive Regierung unterstützten.
 

Gäste: 

Aris Chatzistenaou, Journalist und Filmemacher aus Athen, Regisseur der Dokumentarfilme "Debtocracy", "Catastroika" und "Faschimsus AG"

Transkript: 

Fabian Scheidler: Premierminister Samaras spricht von einer Erfolgsgeschichte in Griechenland. Wie sehen Sie die wirtschaftliche und Gesellschaftliche Situation in Griechenland?

Aris Chatzistefanou: Griechenland durchlebt eine finanzielle und soziale Katastrophe und es ist eine schreckliche Lüge, von einer Erfolgsgeschichte zu sprechen, wenn Menschen Selbstmord begehen, weil sie sich kein Essen leisten und nicht für ihre Familien sorgen können. Niemand hätte mit dergleichen gerechnet. Die EU unterstützt das Märchen von der Erfolgsgeschichte, obwohl  die Daten von Eurostat einen Anstieg der Schulden belegen. Zu Beginn der sogenannten Rettung hatten wir eine Staatsverschuldung von ca. 115-120% des BIP. Mittlerweile sind es fast 200%. Durch die Intervention der Europäischen Zentralbank, des Internationalen Währungsfonds und der EU-Kommission wurde die Wirtschaftsinfrastruktur zerstört und nun reden sie von einem primären Haushaltsüberschuss. Wir müssen zwei Dinge beachten, wenn wir über den primären Überschuss sprechen: Erstens bleiben dabei die Schulden gegenüber ausländischen Banken und Instituten unberücksichtigt. Ein Land, das so hoch verschuldet ist, kann daher den Primärsaldo nicht als Indikator für seinen Zustand verwenden. Das ist die falsche Maßzahl. Und außerdem lügen sie bei der Berechnung des Primärüberschusses. Wir haben keinen Primärüberschuss. Vielmehr haben wir ein riesiges Defizit, das von Monat zu Monat wächst.  Sie unterschlagen, dass der Staat Schulen, Krankenhäusern und anderen Einrichtungen Geld schuldet, aber wenn man das weglässt, kann man behaupten was man will. Eurostat sagt, ihr habt ein Defizit, aber Angela Merkel und andere europäische Politiker sagen Nein, ihr habt einen Primärüberschuss. Sie spielen also nur mit Worten, während in Athen und anderen griechischen Städten die Menschen auf der Straße sterben.

Fabian Scheidler: Wie steht es um den griechischen Bildungs- und Gesundheitssektor?

Aris Chatzistefanou: Sie versuchen das Gesundheits- und Bildungssystem heimlich zu privatisieren, weil das die letzte Chance für Geschäftsleute aus dem In- und Ausland ist, den griechischen öffentlichen Sektor auszunehmen.  Angefangen hat es mit der Privatisierung von Häfen, Fluggesellschaften und allem was es sonst noch gab. Das ist jetzt die letzte Chance, sich die Taschen voll zu machen. Aber die Auflösung des Gesundheitssystems wird für viele der Anfang vom Ende sein, nicht nur weil ihnen der Zugang zur medizinischen Grundversorgung fehlt, sondern auch wegen der Belastung für die griechische Gesellschaft.
Griechische Ärzte haben mir gesagt, dass die Sterberaten in Griechenland stark ansteigen werden. In fünf bis zehn Jahren werden Herz- und Gefäßkrankheiten sowie Krebs  deutlich zunehmen, weil die Krise psychischen Druck mit sich bringt. Nicht nur, dass arme Menschen sich den Arzt nicht leisten können. Heute muss man selbst bei der Notaufnahme 25 Euro bezahlen, also gehen ärmere Menschen nicht zum Arzt und selbst einfache Krankheiten bleiben unbehandelt. Aber das Problem ist nicht nur der mangelnde Zugang, sondern der allgemeine Druck, der zu einem starken Anstieg der Mortalität führen wird. Das gleiche gilt für Russland: Die Menschen dort haben durch die Intervention des IWF und die harten Sparmaßnahmen 10 Jahre Lebenserwartung verloren.

Fabian Scheidler: Wie wehren sich Menschen in Griechenland gegen die Sparpolitik? In den letzten 4 Jahren gab es viele Generalstreiks und Massendemos, aber während der letzten Monate scheint der Widerstand abgeflaut zu sein.

Aris Chatzistefanou: Leider ziehen Menschen sich in schlimmen Krisenzeiten auf sich selbst zurück, um zu überleben, und die Gesellschaft als Ganzes lässt traditionelle Rollenmuster wieder aufleben und wird konservativer.  Man erinnere sich an die ersten Jahre der Sparpolitik in den 30ern. Wir wissen, dass die Arbeiterbewegung sechs Jahre gebraucht hat, um wieder auf die Beine zu kommen und sich zur Wehr zu setzen. In Griechenland haben die Menschen in den ersten Krisenjahren zwar wütend reagiert aber niemand im linken Spektrum konnte ihnen eine greifbare Lösung anbieten. Wir hätten radikalere Ideen verfolgen müssen, zum Beispiel den Schuldendienst einzustellen. Das wäre unser Recht gewesen und auch das anderer Länder, die von der Schuldenkrise betroffen sind. Wahrscheinlich hätten wir aus der Eurozone austreten sollen, denn die Eurozone verursacht meines Erachtens die Defizite und Schulden in den Ländern der europäischen Peripherie, während die Länder der Mitte Überschüsse ernten. Wir hätten die Banken verstaatlichen sollen. Diese Maßnahmen hätten der griechischen Wirtschaft eine Atempause verschafft. Ich sage nicht, dass dies die Lösung ist. Die Krise ist struktureller Natur und muss strukturell gelöst werden. Aber diese Schritte hätten für einige Jahre das Überleben der griechischen Wirtschaft und der Bevölkerung gesichert und Raum zum handeln geschaffen. Aber es gab niemanden, der das Ruder in die Hand genommen hätte. Die etablierten Medien und die Regierung haben der Bevölkerung gedroht: Wenn ihr euch sträubt, werdet ihr leiden – ihr werdet kein Geld mehr abheben können und kein Gehalt und keine Rente mehr bekommen, es wird kein Öl und Gas zum Heizen geben und keine Medikamente und so weiter. Die Ironie ist: Man hat uns gesagt, Schlimmes wird passieren, wenn wir die Eurozone verlassen. All das ist trotzdem eingetreten, ohne dass wir irgendwelche Vorteile davon hatten. Wir haben kein Heizöl im Winter, zu wenig Medikamente in Krankenhäusern, die Renten wurden gestrichen und alte Menschen haben kein Geld zum Leben. Und das alles ohne jeden Vorteil. Ich fürchte, dass mitten in Europa ein Dritte-Welt-Land entsteht. Wenn alles so weitergeht, wird es in ein paar Jahren Zonen in griechischen Großstädten geben, die sich nicht von Subsahara-Afrika unterscheiden.

Fabian Scheidler: Die Syriza-Partei wird voraussichtlich bei den Wahlen zum Europaparlament die stärkste griechische Partei werden. Welche Rolle sehen Sie für Syriza innerhalb der Widerstandsbewegungen?

Aris Chatzistefanou: Zunächst einmal sehe ich Syriza unterschiedlich, je nachdem ob ich in Griechenland bin oder im Ausland. Von außen sehe ich, dass ein Wahlsieg von Syriza auch für andere europäische Länder einen Wandel bringen könnte, denn dann gäbe es eine konkrete Alternative. Die Menschen könnten sagen: Wir haben genug von den Neoliberalen und ihren rechten Parteien, wir verändern etwas. Damit eine Partei wie Syriza in Griechenland etwas bewirken kann, benötigt sie die Unterstützung einer Massenbewegung, ähnlich wie die Bewegungen in Lateinamerika, die Chavez oder Morales und andere linke Politiker unterstützt haben. Um zu erreichen, was die Sozialdemokraten in den 70ern geschafft haben, braucht man großen Rückhalt, denn das politische Spektrum hat sich soweit nach rechts verschoben, dass nichts ohne Unterstützung des Volkes möglich ist. Leider hat Syriza es versäumt, eine solche Massenbewegung ins Rollen zu bringen. Sie haben sich mehr für Spiele im Parlament und für parlamentarische Prozeduren interessiert, aber sie brauchen das. Denn in Griechenland existiert auch ein Staat im Staat und wenn die Wirtschaftseliten sich bedroht fühlen, sind sie imstande, gegen die Regierung zu agieren. Deshalb brauchen sie die Unterstützung der Bevölkerung. Meiner Meinung nach müssen sie ehrlich sagen, dass ein sehr schweres Jahr bevorsteht und dass es die Hölle werden kann. Wenn man das Vertrauen der Menschen hat und sie wissen, dass sie Opfer bringen müssen, weil es keine einfachen Lösungen mehr gibt, aber dass danach Hoffnung auf Überleben besteht, dann sind sie bereit, eine Art gesellschaftlichen Vertrag zu schließen. Leider tut Syriza das bisher noch nicht, aber warten wir es ab.
 
Fabian Scheidler: Wie lässt sich die aktuelle Krise überwinden? Welche Hoffnung besteht jenseits der Not?

Aris Chatzistefanou: Die Hoffnung ist, die griechische Wirtschaft kurzfristig wieder in Gang zu bringen, damit die Menschen überleben können. Das ist die Hauptaufgabe und wir sollten uns nicht an Ideologien oder Theorien klammern, wenn wir sie angehen. Zunächst sollten wir dem Beispiel von Ländern wie Island folgen, das die Schuldenrückzahlungen eingestellt, die Banken verstaatlicht und die Kapitalströme reguliert hat und nun als europäische Erfolgsgeschichte dasteht. Als erstes sollten wir also aus der Eurozone austreten. Ich weiß, dass ich mit dieser Auffassung in Griechenland allein bin. Die Leute wissen, dass die Eurozone mit Problemen verbunden ist, aber sie haben Angst vor den Folgen eines Austritts. Ich glaube aber, dass selbst wenn jemand unsere Schulden wegzaubern würde,  wir nach ein paar Jahren wieder Schulden anhäufen würden, weil die Eurozone strukturell zu einer Verschuldung der kleinen EU-Staaten führt. Also sollten wir austreten und versuchen, uns mit anderen Mitteln über Wasser zu halten. Es mag zwar schwer werden, aber es ist möglich, und andere Länder mit ähnlichen Problemen könnten denselben Weg gehen. Ich meine Spanien, Portugal oder Irland. Wenn sie sehen, dass es einen anderen Weg gibt, werden sie auch darüber nachdenken. Es könnte ein neuer Machtpol innerhalb der EU entstehen. Und selbst wenn es fehlschlägt, wird Brüssel einen großen Schreck bekommen und nach anderen Lösungswegen suchen. Daher sollten wir etwas Neues wagen, denn andernfalls werden wir unweigerlich scheitern.