02.11.2012
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Einleitung: 

Neben den Kandidaten der Demokraten und Republikaner gibt es auch eine Reihe von weiteren Bewerbern unabhängiger Parteien, wie zum Beispiel Jill Stein von den Grünen oder Rocky Anderson von der Justice Partei. Doch nur Präsident Barack Obama und sein Herausforderer Mitt Romney wurden zu den TV-Duellen eingeladen. Die Wahlbeteiligung in den USA ist zudem eine der niedrigsten in der industrialisierten Welt. Die Finanzierung des Wahlkampfs hat derweilen astronomische Ausmaße angenommen. Die Kampagnen der Demokraten und Republikaner haben rund sechs Milliarden Dollar insbesondere aus der Finanzindustrie, von Konzernen, Investoren und Vermögenden erhalten. Währenddessen sind viele Wähler desillusioniert vom Zweiparteiensystem. Sie haben den Eindruck, keine der beiden Parteien würde die Interessen der Bevölkerungsmehrheit vertreten.

 

Gäste: 
Amy Goodman: Moderatorin von Democracy Now!, Trägerin des Alternativen Nobelpreises und Autorin von "The Silenced Majority"
Medea Benjamin: Gründer der Frauenaktivistengruppe Code Pink und Autorin von "Drone Warfare"
Michael Albert: Gründer von ZCommunications und dem South End Press Verlag, Autor von "Beyond Capitalism"
Bill McKibben: Umweltjournalist u. -aktivist, Gründer von 350.org, Autor von "The End of Nature"
Vivek Chibber: Soziologe an der New York University, Mitarbeiter des Brecht Forum und Left Forum
John Nichols: Korrespondent von "The Nation", Autor von "Uprising. From Wisconsin to Wall Street"
Transkript: 

David Goeßmann: Willkommen bei Kontext TV. Amerika steht vor der Wahl. Am 6. November wird ein neuer Präsident in den USA gewählt. Wir nehmen das zum Anlass, nicht nur über die Wahl, sondern auch über die politische Situation im Land zu sprechen. Wir bilanzieren die erste Amtszeit von Präsident Barack Obama, die Krise in den USA und die Protestbewegungen im letzten Jahr. Und wir diskutieren, wie eine alternative Agenda für Amerika aussehen könnte.

Fabian Scheidler: Im August ist Kontext TV durch die Vereinigten Staaten gereist und hat mit Dissidenten, Aktivisten und unabhängigen Journalisten Interviews geführt. Sie erläutern, was in den USA zur Wahl steht – und was nicht. Zu Gast sind unter anderem: Amy Goodman, Moderatorin der Graswurzel-TV-Sendung Democracy Now und Trägerin des Alternativen Nobelpreises, Medea Benjamin, Mitinitiatorin der Frauenaktivistengruppe Code Pink und Bill McKibben, Umweltjournalist – und aktivist und Gründer der globalen Klimawandelbewegung 350.org.

David Goeßmann: Neben den Kandidaten der Demokraten und Republikaner gibt es auch eine Reihe von weiteren Bewerbern unabhängiger Parteien, wie zum Beispiel Jill Stein von den Grünen oder Rocky Anderson von der Justice Partei. Doch nur Präsident Barack Obama und sein Herausforderer Mitt Romney wurden zu den TV-Duellen eingeladen. Auch sonst berichten die Mainstreammedien kaum über die anderen Kandidaten. Die Wahlbeteiligung in den USA ist zudem eine der niedrigsten in der industrialisierten Welt. Bei der letzten Wahl im Jahr 2008 lag sie bei 61 Prozent. Seit den 70er Jahren wählen im Durchschnitt gut 50 Prozent der US-Wahlberechtigen. Vor allem Afro-Amerikaner, Latinos und sozial Schwache gehen kaum zur Wahl.

Fabian Scheidler: Die Finanzierung des Wahlkampfs hat derweilen astronomische Ausmaße angenommen. Die Kampagnen der Demokraten und Republikaner haben rund sechs Milliarden Dollar insbesondere aus der Finanzindustrie, von Konzernen, Investoren und Vermögenden erhalten. Damit ist dieser US-Wahlkampf der teuerste aller Zeiten – bezahlt von mächtigen Lobbygruppen. Währenddessen sind viele Wähler desillusioniert vom Zweiparteiensystem. Sie haben den Eindruck, keine der beiden Parteien würde die Interessen der Bevölkerungsmehrheit vertreten. Kontext TV sprach mit Amy Goodman, Medea Benjamin, Michael Albert und John Nichols darüber, was von dieser Wahl zu erwarten ist – und was nicht.

Amy Goodman: 2010 hat der oberste Gerichtshof ein Urteil gefällt, genannt Citizens United, das es Konzerngeldern noch leichter macht, in die Politik zu fließen. Es gibt mittlerweile nicht nur Lobbygruppen wie die Political Action Committees, kurz PACs, und Parteien, die Unmengen von Geld spenden, sondern auch übergeordnete Super-PACs, bei denen wir nicht wissen, woher das Geld kommt. Es ist extrem gefährlich, wenn nicht einmal bekannt ist, wer auf die Wahlen Einfluss nimmt, wer Millionen oder Milliarden in den Wahlkampf pumpt. Das begünstigt die reichen Eliten. Und dann gibt es landesweit die republikanische Bewegung, insbesondere republikanische Gouverneure und Generalstaatsanwälte in Florida und New Mexico, die versuchen, Bürger aus dem Wahlregister streichen zu lassen, indem sie Briefe verschicken, in denen die Wähler aufgefordert werden, sich unter Vorlage eines Ausweises erneut für die Wahl registrieren zu lassen. Das begünstigt Wähler, die Geld für den Ausweis ausgeben können und diejenigen, die wissen, wie man ihn beantragt. Es wird versucht, die Wähler einzuschüchtern – langsam aber sicher, insbesondere in den Bundesstaaten, in denen die prognostizierten Mehrheiten unklar sind, den sogenannten „Swing States“. Die Leute sagen sich: „Vielleicht darf ich gar nicht wählen, vielleicht wird mein Aufenthaltsrecht angezweifelt, ich möchte niemanden gefährden.“ Die Wähler werden verunsichert. Das ist eine ernste Aushöhlung des amerikanischen Wahlrechts. Wir haben bereits die geringste Wahlbeteiligung in der industrialisierten Welt. Anstatt die Registrierung am Wahltag vorzunehmen – nach dem Motto: „Zur Wahl erscheinen und wählen“ - werden den Menschen in den Vereinigten Staaten laufend Steine in den Weg gelegt. Das wird im November ein ernstes Problem werden: das Geld und die Manipulation der Wahlregister.

Medea Benjamin: Das US-Parteien-System ist aus verschiedenen Gründen kaputt: Zum einen ist es strukturell defekt. Es ist eben nicht wie in Deutschland, wo man mit 5% der Stimmen auch 5% der Sitze bekommt. Die Partei der Grünen wird in den USA ständig klein gehalten, als unwichtig abgestempelt, statt die Rolle einer dritten Partei zu spielen, die die anderen Parteien ernst nehmen müssten. Außerdem wurde das Wahlsystem durch die unglaublichen Geldmengen korrumpiert, die in die Wahlen gesteckt werden, enorme Mengen. Wir sprechen über Milliarden, die für jede der unterschiedlichen Wahlen eingeworben werden müssen, Milliarden über Milliarden, jedes einzelne Mal. Ein System, das Politiker dazu zwingt, alle zwei Jahre beim Kongress, oder alle vier Jahre bei den Präsidentschaftswahlen, um Millionen von Dollar zu betteln, ist ein kaputtes System. Ich glaube nicht, dass wir erhobenen Hauptes durch die Welt gehen und behaupten dürfen, dass wir das Modell für eine Demokratie besitzen, die der Rest der Welt nachahmen sollte. Das ist sehr frustrierend für Aktivisten in diesem Land. Ich selbst bin von Kalifornien nach Washington D.C. gezogen, als Obama gewählt wurde, um mittendrin zu sein, im Glauben, dass wir nun wirklich etwas verändern könnten. Und ich wurde zynisch, was Veränderungsmöglichkeiten durch Wahlen angeht. Ich denke, der einzige Weg, in diesem Land etwas zu ändern, ist durch eine grundlegende Graswurzelbewegung, die lokal startet und sich von unten aufbaut.

Michael Albert: Gibt es bei den Wahlen einen Unterschied zwischen Obama und Romney. Ja den gibt es. Ist er groß genug, um als Linker für Obama zu arbeiten? Ich denke nicht. Es ändert nichts. Was tatsächlich auf lange Sicht etwas verändern kann ist vielmehr, was nach der Wahl passiert. Ich halte es für wichtiger, in sozialen Bewegungen zu arbeiten, die dann auf den neuen Präsidenten, ob nun Obama oder Romney, Druck ausüben. Es gibt sicherlich Leute, die die Wahl für bedeutender halten und das ist vollkommen ok. Probleme habe ich mit Leuten, die Obama in den Himmel heben. Er sei großartig. Das ist irreführend. Wer auf der anderen Seite nun sagt, dass ein Sieg Obamas keinen Unterschied mache gegenüber dem Einzug Romneys ins Weiße Haus, der soll die Augen schließen, sich den Wahlmorgen vorstellen. Das Ergebnis wird bekannt gegeben: Romney schlägt Obama und wird der neue Präsident in den Vereinigten Staaten. Ist das wirklich vollkommen egal. Macht das tatsächlich keinerlei Unterschied. Ich denke, es wäre eine große Sache. Denn es sagt einiges aus über den zukünftigen Kurs des Landes. Es legt die Verantwortung für dieses Land in die Hände von Verrückten. In Europa gibt es Faschisten, aber sie sind meistens ein Randphänomen. Die Rechte in den USA droht hingegen, die Vorherrschaft zu erlangen. Diese Leute sind wirklich irre. Sie glauben, dass die Menschheit seit 10.000 Jahren auf dem Planeten lebt. Sie sind zwar keine Faschisten, aber religiöse Fanatiker, Fundamentalisten. Das ist eine gefährliche Mischung. Wenn jemand also daher für Obama arbeitet, auch wenn er weiß, dass Obama eine schlimme Politik betrieben hat, dann kann ich das nachvollziehen. Wichtiger ist aber die politische Arbeit jenseits des Wahlkampfs und der Partei.

John Nichols: Die Wahlkampfpolitik in den USA ist sehr polemisch und bitter. Aber die Debattenrahmen ist eng, was ungesund ist. Seit der Wahl Paul Rayns als Vizepräsidentschaftskandidat von Mitt Romney ist klar, dass die Republikaner sich eindeutig als rechte Sozialkürzungspolitik-Partei positioniert haben. Sie signalisieren damit, dass sie bereit sind, für die Reichen und die Unternehmen Steuern zu kürzen, die Gewerkschaften zu attackieren, öffentliche Dienstleistungen runterzufahren. Man weiß jetzt, wo die Rechte hin will. Leider machen die Demokraten mit einer ziemlich simplen Botschaft Wahlkampf: Wir sind nicht die Republikaner, wir sind nicht Paul Ryan, wir sind nicht so schlimm wie die. Es gibt aber keine alternative Vision von ihnen. Was bleibt ist also eine ziemlich rechte Politik auf der einen Seite und auf der anderen eine gemäßigte Politik, die verspricht, nicht gar so verheerend zu wüten. Auf der nationalen Ebene gibt es bei uns leider nicht solch intensiven Links-Rechts-Debatten, wie man sie zum Beispiel in den Bundesstaaten Wisconsin oder Ohio sehen konnte, wo großartige Kämpfe um Arbeiterrechte stattfanden. Ich denke, das ist schade. Denn: Die Linke votiert ja nicht nur gegen etwas, sie will ja nicht nur etwas stoppen, sondern will etwas dagegen setzen. In diesem Land gibt es viele Probleme, die gelöst werden müssen. Wir haben eine Krise der Gesundheitsversorgung hier in Amerika, und Präsident Obamas Reform, auch wenn einiges nicht schlecht war, hat diese Krise nicht gelöst. Die enormen Kosten und die Qualitätsdefizite bestehen weiter. Wir brauchen eine staatliche Krankenversicherung für alle, nicht nur für die Senioren, die in den USA bereits einen staatlichen Versicherungsschutz genießen, genannt Medicare. So etwas wie in Europa wäre nötig. Wir brauchen nationale Pensionen und wirkliche Rentenversicherungen. Aber wofür sich die Demokraten stark machen ist im Prinzip die Bewahrung des Status quo, im Fall der Gesundheitsreform Obamas durchaus mit einigen Verbesserungen. Aber radikale Reformen, wie ich sie für notwendig halte, stehen nicht auf dem Plan. Sie würden den Amerikaner aber wieder die nötige Energie geben. Es gibt viele Millionen Amerikaner quer durchs Land, die eine radikale Reform fordern. Sie sagen: Wir wollen Amerika zum Besseren verändern. Aber sie bekommen keine Signale von der politischen Führung, dass dieser Kampf geführt wird.

Amy Goodman: Präsident Obama hat nur wenige seiner Versprechen gehalten. Demokraten, die Obama unterstützen, erwidern darauf üblicherweise: „Wen würden Sie stattdessen wählen? Mitt Romney? Würden Sie für Paul Ryan stimmen?“ Den würde ich übrigens als den eigentlichen Drahtzieher bezeichnen, denn er hat eine sehr klare Vorstellung davon, wie das amerikanische Sozialsystem abgebaut werden soll. Darüber hinaus ist er ein sehr vehementer Abtreibungsgegner. Die Demokraten sagen also „Ihr habt keine Alternative.“ Die Frage ist aber: Werden die Leute überhaupt wählen gehen? Präsident Obama konnte 2008 die Wahl gewinnen, da er all diese Bewegungen um sich scharen konnte: Die Umweltbewegung, die Friedensbewegung, die Jugendbewegung und die schwul-lesbische Bewegung. Sie alle hatten so lange das Gefühl, mit dem Kopf gegen eine Wand zu rennen. Plötzlich wurde aus dieser Wand eine Tür und diese Tür hat sich einen Spalt breit geöffnet. Aber die Frage ist: Wird diese Tür vollends aufgestoßen oder wieder zugeschlagen? Und das hängt nicht von der einen Person im Weißen Haus ab, sondern von jedem Einzelnen und von den Bewegungen. Es stimmt, diese eine Person bekleidet das mächtigste Amt der Welt, aber es gibt eine Kraft, die noch mächtiger ist und die besteht aus Menschen, die sich zusammenschließen. Das hat Occupy gezeigt und deshalb ist es so wichtig, diese Ansichten sichtbar zu machen. Wenn es Medien gäbe, die dies täten und dadurch die Diskussion belebten, wäre nicht absehbar, was dabei heraus kommen könnte, wie sich die Menschen entscheiden würden.