15.05.2018
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Einleitung: 

Der sogenannte Friedensprozess sei in Wahrheit eine Friedensblockade. So habe Israel den Palästinensern in den bilateralen Verhandlungen von Camp David über Taba bis Annapolis nie einen lebensfähigen Staat angeboten, so Finkelstein. Dem gegenüber lasse Israel keinen Zweifel daran, dass man die Siedlungsblöcke mit fruchtbarem Land und den Wasserreserven im Westjordanland dem eigenen Staatsgebiet eingliedern wolle, wodurch dieses in Kantone zerteilt werde. Das mache einen Palästinenserstaat undenkbar. Die israelische Blockade einer Zweistaatenlösung sei zugleich nur möglich, da die Expansionspolitik von den USA gestützt werde. Auch die europäischen Länder ließen Israel gewähren. Sie hätten jedoch prinzipiell die richtige Einstellung in Bezug auf eine Konfliktlösung – anders als die Amerikaner. Sie müssten lediglich ihren Worten Taten folgen lassen und Druck auf Israel ausüben, damit das Land dem Völkerrecht folge, so Finkelstein.

Gäste: 

Norman Finkelstein, US-amerikanischer Politologe und Autor zahlreicher Bücher zum Israel-Palästina-Konflikt. Finkelstein ist Sohn von Holocaust-Überlebenden.

Transkript: 

David Goeßmann: Ich möchte zum diplomatischen Prozess im Israel-Palästina-Konflikt insbesondere nach 1967 kommen. Seit Mitte der 1970er Jahre ist eine Zweistaatenlösung im Gespräch, die auf der UN-Resolution 242 basiert und quasi von der ganzen Welt unterstützt wird, einschließlich der arabischen Länder, der PLO und sogar der Hamas. Selbst die Hisbollah könnte damit leben. Der Grundgedanke ist einfach: Ein Palästinenserstaat in den international  anerkannten Grenzen der Zeit vor dem Sechstagekrieg 1967. Warum kann diese Lösung nicht umgesetzt werden, obwohl sie doch Gewalt und Spannungen abbauen würde.

Norman Finkelstein: Das ist nicht ungewöhnlich. Die USA haben immer wieder Pläne zur Lösung von Konflikten behindert. Also wundert es nicht, wenn sie auch hier einer Lösung im Weg stehen. Der feine Unterschied ist: Meistens versperren sich die USA, wenn sie ihre nationalen Interessen gefährdet sehen. Hier allerdings tragen sie meines Erachtens Israels Friedensblockade mit, weil die Israel-Lobby im Land sie unter Druck setzt, obwohl den USA eigentlich nichts daran liegt, einen Palästinenserstaat zu verhindern.

David Goeßmann: Israel und die USA haben einen Palästinenserstaat lange abgelehnt. Heute reden sie offen darüber, obwohl die USA im UN-Sicherheitsrat immer wieder ihr Veto zum Beispiel gegen die Anerkennung der palästinensischen Autonomiebehörde als Mitgliedstaat einlegen. Was ist von den Äußerungen der USA und Israels zu halten?

Norman Finkelstein: Das kommt darauf an, was man mit einem Palästinenserstaat meint. Sie können ihn auch hier in diesem Raum ausrufen, aber ist das dann ein Staat? Es liegt seit vielen Jahren klar auf der Hand, was Israel anstrebt, wenn man sich ihr Verhalten abseits der Rhetorik anschaut. Nach dem Treffen von Camp David wurden im Dezember 2000 die sogenannten Clinton-Parameter aufgestellt. Danach gingen die Verhandlung im Januar 2001 im ägyptischen Badeort Taba weiter. Die in Taba vorgelegten Landkarten unterscheiden sich kaum von denen der Annapolis-Konferenz unter US-Präsident Bush. Israel will seine Hauptsiedlungsblöcke behalten, die etwa 9 Prozent des Westjordanlandes ausmachen. Und sie bauen diese Mauer, die sich um die Siedlungen schlängelt.

Israel hat zugegeben, dass diese Mauer die neue Grenze ist. Sie dient nicht dazu, Terroristen abzuhalten, sondern als neue Grenzlinie. Israel will die Siedlungsblöcke behalten und wenn das gelingt, wird es keinen palästinensischen Staat geben. Erstens wird den Palästinensern damit das fruchtbarste Land vorenthalten. Zweitens werden sie von den Hauptwasserquellen abgeschnitten, die sich innerhalb der Mauer befinden. Und drittens zerschneidet die Mauer das Westjordanland, weil sie die Siedlungen Ariel Shomron im Norden und Maale Adumim im Zentrum einschließt. Maale Adumim teilt das Westjordanland in Norden und Süden und Ariel Shomron zerschneidet dessen nördlichen Teil. Zwischen diesen Siedlungen würde jedoch kein Palästinenserstaat entstehen, sondern mehrere Kantone oder Bantustans, wie immer man das nennen will.

David Goeßmann: Was sind Bantustans?

Norman Finkelstein: Als Bantustans oder Homelands wurden die Gebiete bezeichnet, die das südafrikanische Apartheidregime der indigenen schwarzen Bevölkerung zuwies. Von insgesamt zehn wurden später fünf oder sechs zu Staaten erklärt. Das waren zum Beispiel Transkei, Ciskei, Boputats-Wana (Bophuthatswana )oder Venda. Sie waren Pseudostaaten, die übrigens von den Vereinten Nationen nicht anerkannt wurden, weil jeder wusste, dass es keine echten Staaten waren, sondern Reservate, die das Regime den Einheimischen zuteilte, um seine Herrschaft über Südafrika zu konsolidieren. Und damit will Israel auch die Palästinenser abspeisen. Es geht also nicht um einen wirklichen Staat.

David Goeßmann: 2001wurde im ägyptischen Taba über eine Lösung verhandelt. Der damalige US-Präsident Bill Clinton leitete die Gespräche zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barack und dem palästinensischen Präsidenten Yassir Arafat. Es soll damals fast zu einer Einigung gekommen sein. Was passierte genau und wie könnte heute daran angeknüpft werden, um Frieden zu erreichen?

Norman Finkelstein: Das wird behauptet, aber ich halte das für falsch. Diese Behauptung „Wir waren nah dran “ wurde immer wiederholt,  weil beiden Seiten etwas daran lag. Die palästinensische Seite wollte damit die Verhandlungen legitimieren. „Wir waren ganz nah dran.“ – das haben sie in Annapolis gesagt und auch nach Ehud Olmerts Vorschlag im Jahr 2008. Das ist eine Rechtfertigung dafür, 20 Jahre lang nur geredet zu haben, während Israel sich das Westjordanland einverleibt. Und von israelischer Seite wurden Unterhändler wie Shlomo Ben-Ami geschickt, der auch seine Absichten hat: Er möchte zeigen, dass er es geschafft hätte, wäre da nicht Sharons Wahlsieg 2001 gewesen.

Das stimmt nicht und wir müssen das zugeben, um der Klarheit willen. Die Karte, die Israel für das eigene Staatsgebiet in Taba vorlegte, schloss alle Siedlungsblöcke im Westjordanland ein – daran hatte sich nichts geändert, ebenso wenig wie in der Flüchtlingsfrage. Das sind die Fakten.

David Goeßmann: Welche Rolle haben die USA und die Länder Europas in diesem Konflikt und in der Nahostdiplomatie?

Norman Finkelstein: Zwischen den beiden besteht ein großer Unterschied. Die europäischen Länder sagen das Richtige, tun aber das Falsche – oder gar nichts. Die USA sagen das Falsche und unterstützen auch die falschen Dinge. In der EU und in Europa insgesamt hat man es daher einfacher, weil man die Regierungen nur dazu bewegen muss, gemäß ihrer Worte zu handeln. Die Länder Europas haben in allen relevanten Foren immer wieder für einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 plädiert, der das Westjordanland, Gaza und Ostjerusalem umfasst. Sie haben klargestellt, dass die Siedlungen das Völkerrecht verletzen. Leider handeln sie nicht danach, also muss man sie antreiben und Druck ausüben, damit Wort und Tat übereinstimmen.

In den USA ist der Kampf viel schwieriger, weil sie nicht einsehen wollen, was richtig ist. Es ist immer noch ein hartes Ringen um die veröffentliche Meinung und mit der Regierung, die nicht einmal prinzipiell die völkerrechtlichen Grundlagen akzeptiert. In den USA weht ein starker Gegenwind. Auch in Europa ist es ein Kampf, aber kein so schwerer. Nehmen wir die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die völlig verblendet ist, wenn es um Israel und den Holocaust geht. Sie leidet unter der Wahnvorstellung, dass Hitler immer noch in seinem Bunker ist und sie dem Sonderkommando angehört, das ihn töten soll. Aber selbst sie verliert langsam die Geduld mit Israel. Denn Netanjahu ist ein Lügner, ein Dieb, und selbst Israels treuster Verbündeter, Deutschland, verliert die Geduld mit ihm. Das zeigen vor allem die Meinungsumfragen: Verheerende Ergebnisse für Israel in ganz Europa. Das gilt nicht für Osteuropa, denn bei den Osteuropäern verhält es sich etwas anders. Sie sind Antisemiten und glauben tatsächlich, dass Israel die USA sowie die ganze Welt beherrscht und dass man freundlich zu Israel sein muss, um sich die Gunst der USA zu erkaufen. Dieses Bild kultivieren die Israelis. Sie sagen, wir gehen im Weißen Haus ein und aus und wenn ihr etwas für uns tut, legen wir dort ein gutes Wort für euch ein. Das hat man gesehen, als Bulgarien die Hisbollah für den Anschlag auf einen Bus verantwortlich gemacht hat, obwohl es dafür überhaupt keine Beweise gab. Aber Bulgarien hat Angst, von Israel bei den USA schlecht gemacht zu werden. Natürlich wollten auch die USA Hisbollah die Schuld zuschieben.

Nun, eine Sonderstellung in Europa nimmt Tschechien ein, weil Arafat zu Sowjetzeiten häufig dort war. Wegen dieser Erinnerung hassen die Tschechen heute die Palästinenser und sind deshalb die größten Freunde Israels, gleich nach Kanada. Abgesehen davon sind Länder wie Polen wirklich antisemitisch und glauben, dass die Welt von Juden kontrolliert wird  und man vor Israel kuschen muss, um den USA zu gefallen.

Die West- und Mitteleuropäer sind dafür zu klug. Ihnen sind die Palästinenser einfach zu egal, um etwas für sie zu tun. Prinzipiell haben die Europäer aber den richtigen Standpunkt, da bin ich mir sicher.

David Goeßmann: Wie könnten sie Druck ausüben?

Norman Finkelstein: Vor allem könnten die Europäer für das Völkerrecht eintreten. Die Rechtslage ist eindeutig. Amnesty International fordert ein hundertprozentiges Waffenembargo gegen Israel – auch gegen die Hamas, aber das ist belanglos, weil sie keine Waffen haben. Europa sollte sich auch zum Gutachten des Internationalen Gerichtshofes von 2004 bekennen und Sanktionen verhängen, bis Israel die Mauer abbaut. So will es das Recht. Die Sanktionen sollten gelten, bis Israel nicht nur den Siedlungsbau einstellt, sondern – das steht im letzten Bericht des UN-Menschenrechtsrates – bis die Siedlungen aufgelöst werden. Bei dem, was wir als Farce den Friedensprozess nennen, geht es immer nur darum, ob Israel während der Verhandlungen weiter Siedlungen bauen darf. Die Frage sollte eigentlich heißen: Darf Israel weiter verhandeln, bevor es alle Siedlungen beseitigt hat? Sie sind rechtswidrig und sollten zurückgebaut werden, bevor man verhandelt. Nach dem römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs stellen sie ein Kriegsverbrechen dar, das rückgängig gemacht werden muss. Und wenn es schon nicht rückgängig gemacht wird, dann muss es zumindest aufhören. Die EU kann eine ganze Reihe von Sanktionen einsetzen, um das Recht durchzusetzen.

In Israel gibt es keinen Protest gegen die Besatzung, weil es die Besatzung nicht gibt. Es ist die erste kostenlose Besatzung der Weltgeschichte. Die Autonomiebehörde macht die Drecksarbeit für die Israelis: Bewachen, Foltern, Töten. Und die Europäer und die Golfstaaten bezahlen dafür. Israel zerbombt Gaza – die Niederlande, Belgien und alle anderen bezahlen den Wiederaufbau – Israel zerbombt Gaza nochmal – die Europäer zahlen wieder. Auf diese Weise zahlen die Europäer alle Rechnungen und die Amerikaner geben Israel in allen wichtigen politischen Foren der Welt Rückendeckung.

Aus Sicht der Israelis gibt es daher keine Besatzung. Sie leben gut, der Wirtschaft geht es bestens, im Gegensatz zu Europa oder Amerika. Sicher sind die Einkommen sehr ungleich verteilt – nach den USA sind in keinem anderen Industriestaat die Einkommen ungleicher verteilt. Aber eine Besatzung gibt es nicht und niemand redet darüber. Über die letzte Wahl wurde viel diskutiert, aber das wirklich Besondere daran war, dass die Besatzungspolitik nicht vorkam. Es ging nur um Innenpolitik. Die Okkupation war einfach kein Thema. Sie ist allen egal.