02.12.2016
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Einleitung: 

Stabilität kann nur von innen kommen, so Bennis. Die Maxime müsse sein: Schade niemandem. Aber die Waffenlobby in den USA sei eine der einflussreichsten. Es sei daher keine leichte Aufgabe, Waffenlieferungen und Bombardierungen im Nahen Osten zu stoppen. Eine diplomatische Lösung sei dringend nötig. Das zeige die derzeitige Flüchtlingskrise. 65 Millionen Menschen, viele Syrer darunter, seien auf der Flucht. Eine „globale Flüchtlingsnation“ sei entstanden, die sogar mit eigenem Team bei der letzten Olympiade antrat. „Das ist ein deutliches Signal, etwas dagegen zu unternehmen.“ Die USA gewährten letztes Jahr nur 10.000 Syrern Schutz. „Eine Schande! Meine Regierung sollte sich schämen“. In den USA fand vielmehr eine Rassismuskrise statt. Europa bekam etwas von der Flüchtlingskrise zu spüren. Aber auch dort gab es eine rassistische Reaktion. „Das Resultat sind neue Grenzkontrollen, Grenzzäune, Grenzpolizei und Aufrüstung. Die Angst um die Einheit Europas ist nun sehr real.“ Hoffnung gebe allerdings der arabische Frühling, der zwar keine Revolution gewesen sei, aber einen revolutionären Prozess in Gang gesetzt habe. Eine ganze Generation habe gesagt: „Es reicht. Das ist ein mächtiges Signal“.

Gäste: 

Phyllis Bennis, Institute for Policy Studies, Washington D.C.

Transkript: 

David Goeßmann: Wie könnte die Region stabilisiert werden und welche Rolle spielen dabei die USA, Europa und Deutschland?

Phyllis Bennis: Wir müssen verstehen, dass Stabilität von innen, nicht von außen erzeugt werden kann. Militärische Interventionen von außen bringen immer nur Destabilisierung. Die Lektion besteht darin, was Medizinstudenten an ihrem ersten Tag lernen, den hippokratischen Eid: Schade niemandem! Wenn wir den IS, das syrische Regime oder andere daran hindern wollen, Menschen zu töten, dann müssen wir zuerst selbst das Töten stoppen. Das heißt: raus mit den Kampfjets, raus mit den Soldaten und ein Ende des Drohnenbombardements. Das ist der erste Schritt. Dann müssen Gespräche über ein allgemeines Waffenembargo folgen. Solange man selber seine Seite mit Waffen beliefert, hat man keine Glaubwürdigkeit, wenn man das von der Gegenseite fordert. Also ein Stopp von Waffenlieferungen muss kommen. Und für regionale Verbündete wie Saudi Arabien, Türkei, Jordanien, die Vereinigte Arabische Emirate, Katar usw. muss gelten, dass sie keine Waffen mehr aus Europa oder den USA bekommen, solange sie sie weiter nach Syrien schicken. Das ist keine einfache Forderung. Die Waffenlobby der USA ist eine der einflussreichsten im Land. Ich habe keine Illusionen. Aber wenn wir es  ernst meinen — und angesichts des Ausmaßes der humanitären Krise, den enormen Opferzahlen, der Art, wie Menschen in diesem Krieg hingerichtet werden — müssen wir es ernst meinen. Dann müssen wir es mit der Rüstungslobby aufnehmen. Schließlich muss die internationale Diplomatie folgen. Mit am Tisch sitzen müssen natürlich die Großmächte, also USA und Russland, und alle regionalen Akteure. Natürlich auch die Parteien innerhalb Syriens, die auf Gewaltverzicht setzende Opposition, Frauenorganisationen, also alle, die bisher von den Verhandlungen ausgeschlossen wurden.

David Goeßmann: Sprechen wir über die Flüchtlingskrise, und damit meine ich die im Nahen Osten und Afrika. In der öffentlichen Diskussion in Europa tut man so, als ob diese Krise erst letztes Jahr begann, als immer mehr Syrier, Afghanen und Eritreer in die EU kamen. Was hat es mit der sogenannten „Globalen Flüchtlingsnation“ auf sich, von der sie sprechen, und wie ist die Flüchtlingskrise mit der US-Außenpolitik verknüpft?

Phyllis Bennis: Es steht außer Frage, dass vor allem die derzeitige Flüchtlingskrise das Ergebnis einer Reihe von Kriegen in der Region ist. Der Irakkrieg, der sogenannte „War on Terror“, entzündete und verstärkte die Kämpfe im Nahen Osten wie sie gerade in Syrien ablaufen. Aber auch nach Mali und Libyen sind die Kriegshandlungen herüber geschwappt und haben eine Flüchtlingskrise erzeugt. Die Flüchtlingskrise findet also sicherlich nicht in den USA statt. Und auch nicht wirklich in Europa. Sie findet in der Region selbst statt. Im Iran und Pakistan leben seit einer Generation, seit die schrecklichen Afghanistankriege vor über 25 Jahren begannen, viele afghanische Flüchtlinge. Es gibt ein ganzes Geflecht von Flüchtlingskrisen, die sich in den letzten ein bis zwei Jahren dramatisch zuspitzten. Zum Beispiel in der Türkei. Allein aus Syrien sind fast drei Millionen Menschen dorthin geflüchtet. Die Türkei ist relativ wohlhabend, sie kann den Zustrom verkraften. Aber selbst die Türkei, welche seit dem vereitelten Putsch und einer Reihe von politischen Krisen wirtschaftlich schwächelt, kommt an seine Grenzen, so viele syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Im Libanon, einem sehr kleinen Land, ist jeder Dritte bis Vierte nun ein syrischer Flüchtling. Wenn man das auf die USA überträgt, wäre das etwa so, als wenn auf einmal 120 Millionen Kanadier in die USA kommen würden, mit nichts anderem als einem Hemd am Leib.

David Goeßmann: In Berlin wären das etwa eine Million ...

Phyllis Bennis: In Berlin wären das etwa eine Million. Eine erschreckende Tatsache, wenn man darüber nachdenkt. Das ist die eigentliche Flüchtlingskrise. In Europa sehen wir eine Art Krise, da viele der Flüchtlinge erkannten, dass sie nicht so schnell wieder in ihr Land zurückkehren können. Sie suchten also anderswo zumindest vorübergehend Schutz für sich und ihre Kinder. Sie überquerten auf unsicheren Booten das Mittelmeer. Sehr viele Menschen sind dabei gestorben. Von Libyen aus ging es nach Italien. Von der Türkei nach Griechenland. Sie landeten in Europa und plötzlich kamen Hunderttausende Flüchtlinge gleichzeitig in Europa an. Federica Mogherini, die EU-Außenbeauftragte, hat letzten Sommer auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsandrangs, als 15 bis 20.000 täglich ankamen, gesagt: „Wir haben ein großes Territorium. Es ist wohlhabend. Wir schaffen das. Das ist keine Krise.“ Man muss bedenken, dass die USA im gesamten letzten Jahr nur 10.000 Flüchtlinge aufgenommen hat. Eine Schande! Meine Regierung sollte sich schämen. Europa bekam etwas von Krise zu spüren. Es gab in Europa einige Ansätze zu helfen. Doch die Gegenreaktion war gewaltig. Genauso wie in den USA gab es einen rassistischen Rückschlag. In den USA fand jedoch überhaupt keine Flüchtlingskrise statt. Es ist eine reine Rassismuskrise. Auch in Europa zeichnet sich das ab. Befeuert durch Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit. Das Resultat sind neue Grenzkontrollen, Grenzzäune, Grenzpolizei und Aufrüstung. Die Angst um die Einheit Europas ist nun sehr real. Was steckt nun hinter der Idee der „Flüchtlingsnation“. Ich habe darüber im Kontext der Olympiade geschrieben. Da gab es das „Team Refugee“. Eine berührende Geschichte von zehn jungen Athleten aus Äthiopien, dem Kongo und Syrien, die enorme Hürden überwinden mussten. Auf der Flucht trainierten sie trotzdem weiter und wurden schließlich zur Olympiade zugelassen. Eine große, menschliche Geschichte. Gleichzeitig lag darin auch die Gefahr einer Normalisierung von Flucht. Gegenwärtig gibt es weltweit 65 Millionen Menschen, die wegen Gewalt oder Terror ihr Zuhause verlassen mussten. Es ist die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit drei Generationen hat es so eine Dimension nicht mehr gegeben. Jetzt scheint das plötzlich ganz normal. Es gibt sogar ein Flüchtlingsteam bei der Olympiade. Werden sie in Zukunft vielleicht einen Sitz bei den Vereinten Nationen erhalten? Werden sie Mitglied der G20? In Sachen Größe der Bevölkerung – 65 Millionen Flüchtlinge, darunter ein großer Teil Binnenvertriebene – läge die Flüchtlingsnation weltweit auf Platz 23. Das ist ein deutliches Signal, etwas dagegen zu unternehmen. Es genügt nicht, einfach einen Ort zu finden, wo sie bleiben können. Das ist auch wichtig. Aber wir brauchen richtige Lösungen. Vor allem müssen die Kriege beendet werden, die die Ursache der Flüchtlingsströme sind und die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben.

David Goeßmann: Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Nahen Osten. Die Zukunft sieht ziemlich düster aus, obwohl der arabische und afrikanische  Frühling stattfanden. Was gibt ihnen Hoffnung für die Region?

Phyllis Bennis: Man muss Hoffnung haben, sonst würde man aufgeben. Ohne Hoffnung kann man nicht weiter arbeiten. Doch man darf nicht naiv sein und sich falschen Hoffnungen hingeben. Meine Hoffnung schöpft sich aus dem Arabischen Frühling. Ich habe die Ereignisse nie als „Revolution“ gesehen. Ich weiß, dass manche meinen: „Die Revolution ist gescheitert, wir sind verloren“. In keinem der Länder fand jedoch eine „Revolution“ statt. Es war in gewisser Weise ein revolutionärer Prozess. Wie bei jedem revolutionären Prozess macht man Fortschritte und Rückschritte. Nach dem Muster: Einen Schritt vorwärts, zwei zurück; zwei Schritte vorwärts, einen zurück. Dieser Prozess dauert an. In den arabischen Ländern gab es zum ersten Mal seit langem den Ruf nach Menschenrechten. Die Bürger, die oft unter brutalen Militärdiktaturen, von den USA gestützt, leben mussten, forderten auf einmal Bürgerrechte ein. Die Auslöser dafür waren vielfältig. Einer war z.B. der Klimawandel. In Syrien wurden 800.000 Bauern aufgrund einer dreijährigen Dürre von ihrem Ackerland vertrieben. In den Städten gab es aber für die Familien keine Arbeit. Nur die mit Kontakten nach oben bekamen einen Job. Das führte zu Entfremdungen und vergrößerte die Konfessionsgräben in Syrien, die vorher keine Rolle spielten. Das war die Ausgangslage. Dann gingen die Menschen schließlich auf die Straße und verlangten ihre Rechten. Allerdings nicht in allen Ländern. Nicht in den historischen Monarchien. Das ist vielleicht die nächste Stufe. Die Menschen haben viel riskiert. Ungeachtet ihrer Klasse kamen sie zusammen, Männer und Frauen. Es war eine neue Aufbruchswelle. Schauen wir zurück auf das Vorbild, den Aufstand in Palästina, die erste Intifada von 1987 bis 1989. Die Palästinenser befreiten sich damals von den traditionellen inneren Einengungen und stellten sich gegen die israelische Besatzung. Auch im Arabischen Frühling fanden solche Befreiungsbewegungen statt. Wie könnte man also keine Hoffnung haben? Eine Generation, die wie ihre Eltern und Großeltern in einem politisch und sozial sehr repressiven Umfeld aufgewachsen ist, erhebt sich und sagt: Es reicht. Es reicht. Kifaya. Es reicht. Das ist ein mächtiges Signal.

David Goeßmann: Vielen Dank für das Interview, Phyllis Bennis.

Phyllis Bennis: Vielen Dank.