16.05.2012

Blockupy oder Der Kampf um Europas Demokratie

Von: Fabian Scheidler

Nachdem die Stadt Frankfurt einen großen Teil der für diese Woche geplanten Proteste gegen die Kürzungspolitik der EU-Troika verboten hatte, ist das Verwaltungsgericht Kassel heute noch einen Schritt weiter gegangen: Es hat quasi alle Veranstaltungen von Blockupy Frankfurt (bis auf eine Demonstration am Samstag) untersagt - einschließlich Kulturprogramm, Rave-Parade und einer vom Komitee für Grundrechte und Demokratie angemeldeten Demonstration für das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit am 17.5.

Die Verbotsorgie wirft ein seltsames Licht auf das Demokratieverständnis der Stadt Frankfurt und der jeweiligen Gerichte. Das Recht auf Versammlungsfreiheit wird mit Verweis auf zerbrochene Fensterscheiben bei einer vorangegangenen Demonstration kurzer Hand außer Kraft gesetzt - eine vollkommen unverhältnismäßige Reaktion. Mit dem Verbot der Demonstration am 17.5. ist es darüber hinaus sogar untersagt, für die Verteidigung des Rechts auf Versammlungsfreiheit eine Versammlung abzuhalten - eine zirkuläre Logik der Repression.

Die Sache wird noch fragwürdiger, wenn man sich vor Augen führt, wer hier vor wem durch solche Verbote geschützt werden soll. Auf Seiten derjenigen, die vor der Ausübung von Grundrechten geschützt werden, stehen Institutionen, die undemokratischer kaum sein könnten. Zunächst die Großbanken, über deren Demokratieferne kaum noch etwas gesagt werden muss. Sie sind nicht nur in ihrer Organisationsform undemokratisch und intransparent, sondern gefährden durch Ihre akkumulierte Geldmacht auch die demokratischen Fundamente der übrigen Gesellschaft, weil sie - wie in der Finanzkrise geschehen - Regierungen erpressen können, nach dem Motto: Wenn ihr uns nicht freikauft, reißen wir euch alle in den Abgrund.

Vor den Bürgern werden ferner jene Institutionen geschützt, die den Ländern der europäischen Peripherie ökonomisch widersinnige, sozial verheerende und politisch brandgefährliche Kürzungsprogramme aufzwingen: die Troika aus EZB, EU-Kommission und IWF. Alle drei Institutionen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Entscheidungsträger niemals von Bürgern gewählt werden. Der Rat der EZB setzt sich aus den Notenbankchefs der Länder und sechs Direktoriumsmitgliedern zusammen, die wiederum vom EU-Rat ernannt werden. Würde es sich nur um eine weisungsgebundene Behörde handeln, wäre das vielleicht verkraftbar; aber die EZB macht Politik, und zwar massiv. Sie diktiert mit den anderen Troika-Mitgliedern die Wirtschaftspolitk jener Länder, die Kredite aus den europäischen Rettungsfonds bekommen. Sie greift in deren Haushaltspolitik ein, verordnet Privatisierungen, Lockerungen des Kündigungsschutzes, Lohnkürzungen, Rentenkürzungen usw. Sie greift so tief in die Politik ein, dass Regierungen stürzen (wie in Griechenland und Italien) und durch sogenannte Technokraten ersetzt werden, die treu die Befehle aus Frankfurt, Berlin und Brüssel ausführen. Und EZB-Präsident Mario Draghi, der bis 2005 Vize-Präsident von Goldman Sachs in London war,  repräsentiert die Aktionäre dieses Unternehmes sicherlich deutlich besser als 99 Prozent der übrigen Bürger.

Der Internationale Währungsfonds als zweites Troika-Mitglied hat sich niemals die Mühe gemacht, auch nur den Schein einer demokratischen Institution zu erwecken. Der Stimmanteil im IWF bemisst sich keineswegs nach der Größe der repräsentierten Bevölkerungen oder auch nur nach der Formel "one country one vote" sondern nach eingezahltem Kapital. In den 80er und 90er Jahren hat der IWF zahllosen Ländern in Lateinamerika, Afrika und Asien Kürzungs-, Deregulierungs- und Privatsierungsprogramme verordnet, die teilweise bis ins Detail den Programmen gleichen, die heute Griechenland, Portugal und anderen EU-Ländern vorgeschrieben werden. Das Ergebnis: Ganze Volkswirtschaften wurden in den Ruin und die Bevölkerungen in dauerhaftes Elend getrieben. Oft genug waren die Empfänger der Kredite und Umsetzer der "Strukturanpassungen" Diktatoren, wie etwa in Chile, Brasilien, Rumänien, Zaire/Kongo und vielen anderen Ländern. Nachdem der Fonds sich massiver Kritik wegen dieser Praktiken ausgesetzt sah, hat er zum Teil sanftere Töne angeschlagen, er hat Strukturanpassung in "Armutsreduzierung" umbenannt; und Christine Lagarde kritisierte in jüngster Zeit die einseitige Kürzungspolitik der Merkel-Regierung. Doch der IWF bleibt demokratiefern wie und eh und je - und mitverantwortlich für das europäische Desaster.

Die EU-Kommission als Exekutive der EU ist demokratisch ebenfalls sehr schwach legitimiert. Anders als nationale Regierungen wird sie nicht vom Parlament gewählt, das EU-Parlament hat nur eingeschränkte Mitsprache- und Kontrollrechte. Und ausgerechnet diese Institution soll nun durch den Fiskalpakt für alle Ewigkeit ein Durchgriffsrecht auf nationale Haushalte erhalten - was letztlich eine unumkehrbare Entmachtung der Parlamente bedeuten würde. (Viele Parlamente wie der deutsche Bundestag sind auf dem Weg, der eigenen Entmachtung zuzustimmen - s. auch die Kontext-TV-Sendung zum Fiskalpakt.)

Europas Demokratie braucht heute nichts dringender als Widerstand gegen die zerstörerische Politik dieser Institutionen. Europa braucht viele Blockupys. Es braucht den Mut, die Wut und die Kreativität seiner Bürgerinnen und Bürger, die nicht zuschauen wollen, wie die nach 1945 errungenen sozialen und politischen Rechte innerhalb von wenigen Jahren von Technokraten und Autokraten zerstört werden. Es braucht Menschen, die sich durch den Schock der Krise nicht lähmen lassen und der Schockstrategie (Naomi Klein) etwas entgegen setzen. Gut durchdachte Alternativen gibt es durchaus. Über die kann und muss man streiten - aber dafür braucht es erst einmal Räume, in denen das möglich ist. Diese Räume dürfen die Bürger Europas sich nicht verbieten lassen. This is what democracy looks like.